„Ich bin durch Not und Elend hin, und oft am Tod vorbeigeschritten“ Katinka Poensgen über ihren Großvater Karl Vögtel

Als Deutscher 1937 aus der Sowjetunion ausgewiesen – als Kommunist 1938 in Deutschland ins KZ Buchenwald verschleppt
Mein Großvater Karl Vögtel wurde am 31. Juli 1902 in Mannheim geboren, meine Großmutter, Luise Lockemann, am 10. November 1904 in Rankweil in Österreich. Noch als Kind zog sie nach Mannheim. Beide haben dort die Volksschule besucht und anschließend eine Berufsausbildung gemacht. Zusätzlich machten sie ihre Meisterprüfung: mein Großvater 1925 als Schlossermeister, meine Großmutter 1927 als Schneidermeisterin. Im Oktober 1928 haben sie geheiratet.
Mein Großvater war aktiv in der Gewerkschaft der Metallarbeiter und wurde 1926 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands. Durch sein politisches Engagement als Kommunist und die wirtschaftlichen Krisen wurde er immer wieder arbeitslos.

Auswanderung in die Sowjetunion

Luise, Karl und Ingeborg Vögtel, Taganrog, UdSSR

Anfang 1931 sind meine Großeltern nach Taganrog in die Sowjetunion ausgewandert. Dort, am Assowschen Meer, arbeitete mein Großvater in einem Rüstungsbetrieb und engagierte sich bei der Kampagne zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Meine Großmutter verdiente ihr Geld mit Nähen. Im Januar 1933 wurde meine Mutter Ingeborg geboren. Zur gleichen Zeit kamen in Deutschland die Nazis an die Macht.
1934 änderte sich die Stimmung in der Sowjetunion gegenüber Deutschen merklich und alle Deutschen wurden aus der Rüstungsindustrie abgezogen. Die kleine Familie musste nach Lugansk umsiedeln. Ein Antrag auf Einbürgerung in die Sowjetunion wurde abgelehnt.

Namensliste von sechs aus der UdSSR ausgewiesenen Personen deutscher Staatsbürgerschaft 1937/38. Sechster Name: Karl Vögtel

Im Jahr 1937 begann in der Sowjetunion die sogenannte Deutsche Operation des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten. Viele Deutsche, darunter auch viele Kommunistinnen und Kommunisten, wurden verhaftet und etliche auch ermordet. Hintergrund dieser Aktion waren angebliche oder auch tatsächliche Spionage und Sabotage. Am 31. Juli 1937 wurde mein Großvater an seinem 35. Geburtstag verhaftet und ins Gefängnis nach Stalino (heute Donezk) gebracht. Meine Großmutter und meine Mutter mussten die Wohnung verlassen und wurden in einer Baracke untergebracht. Meinen Großvater durften sie im Gefängnis nicht besuchen. Er wurde im Dezember 1937 ausgewiesen und landete in Mettmann in einem „Rückwandererheim“. Hier landeten in erster Linie von der NSDAP zurückgeworbene „Auslandsdeutsche“, aber auch Menschen, die als politische Gegner galten. Sie wurden im Heim, das der Auslandsorganisation der NSDAP unterstellt war, von der Gestapo verhört und verhaftet.
Meine Großmutter erfuhr erst Wochen später von seiner Ausweisung. Sie verließ mit meiner Mutter die Sowjetunion und erreichte Mettmann im Februar 1938. Da war mein Großvater bereits in Gestapo-Haft in Düsseldorf. Hier konnten sie ihn einmal besuchen. Im August 1938 wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Hier blieb er bis zur (Selbst-) Befreiung am 11. April 1945.

Mein Großvater im KZ Buchenwald
Das Konzentrationslager Buchenwald wurde 1937 auf dem Ettersberg in der Nähe von Weimar errichtet. Die Häftlinge mussten dafür selbst den Wald abholzen und unter unmenschlichen Bedingungen das Lager aufbauen. Nach Kriegsbeginn wurden Menschen aus ganz Europa nach Buchenwald verschleppt. Es gab 139 Außenlager und es waren 280.000 Menschen inhaftiert. Mehr als 56.000 Häftlinge starben an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung. 8000 sowjetische Kriegsgefangene wurden in Buchenwald erschossen.
Als mein Großvater im August 1938 ins KZ Buchenwald gebracht wurde, bekam er die Häftlingsnummer 5296 und lebte im Block 39. Wenige Wochen nach seiner Ankunft hatte er einen schweren Unfall beim Transport von Baumstämmen. Ein anderes Mal wurde mein Großvater mit 25 Schlägen auf dem Bock bestraft, da er einen SS-Mann nicht gegrüßt hatte. Dieser Bock war eines der brutalsten Folterinstrumente in Buchenwald. Die Häftlinge wurden mit nacktem Gesäß aufgespannt und dann vor den Augen aller Gefangenen ausgepeitscht. Viele überlebten diese Tortur nicht.
1940 wurde mein Großvater in der Tischlerei eingesetzt und ab 1942 in den Deutschen Ausrüstungswerken (DAW). Hier wurde innerhalb des KZ-Geländes für die deutsche Rüstungsproduktion gearbeitet.

Mitgliedskarte der KPD

Trotz seiner Erlebnisse in der Sowjetunion blieb mein Großvater seiner kommunistischen Überzeugung treu und schloss sich 1941 der illegalen Lagerorganisation der KPD an.
In der DAW wurde Widerstand organisiert: Jedes beschädigte Gewehr war ein kleiner Sieg der Buchenwald-Häftlinge über die Faschisten, der den Tag der Befreiung näher brachte. Dieser Widerstand war auch für das eigene Überleben und die eigene Moral wichtig. So wurde im Block 39 zum Beispiel heimlich eine kleine Feier zum 1. Mai organisiert.
Manche Gefangene in Buchenwald durften Post bekommen. Aber Fotos waren nicht erlaubt. Meine Großmutter schickte ihm zum Geburtstag eine Postkarte, die in Wirklichkeit ein Foto von meiner Mutter war. So kam er in den Besitz eines Fotos seiner kleinen Tochter!

Als Geburtstagspostkarte getarnt: Foto von Karl Vögtels Tochter Ingeborg

Meine Großmutter mit Tochter allein in Mettmann
Meine Großmutter lebte nach der Rückkehr aus der Sowjetunion mit ihrer Tochter noch mehr als zwei Jahre in dem Rückwandererheim. Dann zogen die beiden in eine 15 qm große Dachwohnung, die sie sich mit einer Freundin teilten. Der Mann dieser Freundin war ebenfalls in Buchenwald. Davor waren sie auch in der Sowjetunion.
Meine Großmutter wurde mehrfach von der Gestapo verhört. Unter anderem, weil sie mit ihrer Mitbewohnerin russisch gesprochen hatte. Ihr Geld verdiente sie mit Nähen in Privathaushalten und auf Bauernhöfen. Oft wurde sie mit Naturalien bezahlt. Das nutzte sie, um abends den Zwangsarbeiter:innen in Mettmann heimlich Essenspakete über den Zaun zu werfen.

Wiedersehen in Mettmann
In dem Wissen, dass die US-Armee kurz vor Buchenwald stand und ein Teil der Nazis schon geflohen war, gelang es den Häftlingen, sich am 11. April 1945 selbst zu befreien.
Am 23. Mai 1945 kam mein Großvater in Mettmann an und die kleine Familie bezog eine Drei-Zimmer Wohnung.
Bereits im August ging mein Großvater wieder als Schlosser arbeiten. Er wurde im Januar 1946 von den Alliierten als Vertreter der KPD in den ersten Kreistag Düsseldorf/Mettmann berufen. Von 1948 bis 1952 vertrat er die KPD im Stadtparlament von Mettmann. Wie er das KPD-Verbot
1956 persönlich erlebte, weiß ich bisher noch nicht. In die 1968 gegründete DKP ist er nicht eingetreten.
Das neue Familienleben in Mettmann war teilweise schwierig. Für meine zwölfjährige Mutter war mein Großvater erst einmal mal sehr fremd. Bei meiner Spurensuche habe ich ein Gedicht gefunden, das mein Großvater geschrieben hat:
Heimkehr! Frau schau mich nicht so finster an
Und forsche nicht in meinen Zügen.
Ja, ja, ich bin’s, ich bin dein Mann
Dein Auge will dich nicht betrügen.
Wenn ich dir fremd geworden bin
Und unverständlich meine Sitten;
Ich bin durch Not und Elend hin
Und oft am Tod vorbeigeschritten.

Und bin ich auch endlich zu Hause
Wir wollen unsere Freude dämpfen,
Denn, Frau ich ruhe mich nicht aus
Ich muss für unsere Kinder kämpfen.

Gewiss, es käme mir auch zu
Mich endlich einmal auszustrecken.
Doch find ich weder Rast noch Ruh
solange Zwang rings herrscht und Schrecken.

Ich bin nicht eher froh und frei
Und habe keine guten Stunden
Bis das ein End die Tyrannei
Für jeden Schaffenden gefunden.

Drum halte nicht den Kopf gesenkt
Sag nicht, dass ich nicht an euch denke;
Die Freiheit ist mir erst geschenkt
Wenn ich der Welt die Freiheit schenke!

Und danach
Als Kind war ich immer sehr gerne bei meinen Großeltern in Mettmann. Natürlich wusste ich damals nichts von unserer Familiengeschichte. Mein Großvater starb 1972, als ich zehn Jahre alt war. Meine Großmutter lebte noch bis 1983. Aber auch sie hat mir nichts von der Vergangenheit erzählt, genau wie meine Mutter. Ich vermute, dass sie alle so traumatisiert waren, dass sie nicht über diesen Teil ihres Lebens sprechen konnten.
Ich finde es wichtig, dass die Opfer des deutschen Faschismus Name und Gesicht bekommen und nie vergessen werden. Im Januar 2023 wurde für meinen Großvater in Mettmann vor der Wohnung meiner Großeltern ein Stolperstein verlegt und im April in Buchenwald ein Baum gepflanzt. Im Jahr 2021 habe ich intensiv über das Leben meiner Großeltern recherchiert.
Der vollständige Bericht erschien im Jahr 2022 bei „Kinder des Widerstands“: „Tagebuch einer Recherche – Mannheim – Taganrog (Asowsches Meer) – Buchenwald – Mettmann“
Kontakt: info@kinder-des-widerstandes.de

Im Herbst 2022 gab es ein Erzählcafé der Frankfurter VVN zur Geschichte meiner Großeltern. Ausgehend davon organisiere ich im Rahmen der VVN seit Anfang 2023 einen internationalen Arbeitskreis für Nachkommen von Verfolgten des Faschismus. Wir treffen uns vier mal im Jahr. Weitere Informationen sind hier zu finden: VVN-BdA Frankfurt

Außerdem bin ich jetzt in der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald aktiv und unterstütze Nachkommen von Buchenwaldhäftlingen gerne bei der Spurensuche.