Peter Lehmann über seinen Vater Hans-Gerhard Lehmann, Häftlings-Nr. 5476

13. Oktober 2024

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Mein Vater Hans-Gerhard Lehmann wurde am 15.02.1911 in Halle/Saale geboren. Er stammte aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus. Sein Vater Carl war ein reaktionärer kaisertreuer Mann, der das Ende des Kaiserreiches schwer verwinden konnte. Im 1.Weltkrieg hatte er den höchsten Unteroffiziers-Dienstgrad eines Feldwebelleutnants erreicht, worauf er sehr stolz war. Im Elternhaus hingen in der sogenannten guten Stube die Porträts von Wilhelm II. und Bismarck. Sein Erziehungsstil war autoritär. Er verstarb 1944 und hatte jeden Kontakt mit seinem Sohn, dem „Vaterlandsverräter“ Hans-Gerhard, abgebrochen. Meines
Vaters Mutter Helene, verstorben 1934, war dagegen sehr liebevoll zu ihren Kindern.

Mein Vater war ein guter Schüler und besuchte das Gymnasium. Außerdem war er Mitglied im Stadtsingechor zu Halle, einem bekannten Knabenchor. Nach Abschluss der Schule wollte mein Vater Medizin studieren, mein Großvater bestand jedoch auf einem Theologie- Studium. Stattdessen machte mein Vater eine Elektrikerlehre und trat am 01.05.1929 in die KPD ein. So kam es zum endgültigen Bruch zwischen beiden und mein Vater war seit dieser Zeit das „Schwarze Schaf“ der Familie. Er arbeitete dann bis zu seiner Verhaftung in seinem Beruf und als Kraftfahrer, außerdem vom Oktober 1931 bis zur Auflösung im Mai 1933 auch ehrenamtlich für den Arbeiter-Samariterbund.

Bis zum Januar 1933 leitete er eine Straßenzelle im Stadtteil Halle-Ost, außerdem organisierte er die Arbeit der „Roten Hilfe“ in Halle. Nach der Machtübergabe an die Nazis fertigte er mit seinen Genossen Flugblätter an, um die im KZ Lichtenburg inhaftierten Hallenser zu unterstützen. Am 08.01.1934 wurde er von der Gestapo verhaftet und in den ersten fünf Wochen im überfüllten Polizeipräsidium Halle untergebracht. Danach war er sechs Monate in Einzelhaft und kam anschließend in eine Doppelzelle.

Am 24.12.1934 erhielt er vom Kammergericht Berlin gemeinsam mit 16 Genossen eine Anklageschrift. Ihnen wurde vorgeworfen, für die verbotene Organisation „Rote Hilfe“ gearbeitet und „umstürzlerisches Verhalten“ gezeigt zu haben, was gleichbedeutend mit „Vorbereitung zum Hochverrat“ sei. Am 25.01.1935 wurde er zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt und am 21.03.1935 in die Strafanstalt Kassel-Wehlheiden eingewiesen. Kurz vor Beendigung seiner Strafzeit, die auf den 25.01.1936 festgelegt war, erhielt er vom Inspektor der Strafanstalt die Mitteilung, dass er auf Antrag der Gestapo Halle nicht entlassen, sondern
in Schutzhaft genommen werde. Am 21.02.1936 wurde er in das KZ Lichtenburg überführt.

Im September 1936 wurden von dort 300 Handwerker zum Aufbau des KZ Sachsenhausen geschickt, unter denen sich mein Vater befand. Er erhielt dort die Häftlings-Nummer 935. Am 26.06.1937 wurde er nach Hause entlassen. Er musste sich weiterhin zweimal wöchentlich bei seinem zuständigen Polizeirevier melden. Außerdem war er weiteren Repressalien von Seiten der Behörden, wie dem Arbeitsamt, ausgesetzt.

Im Jahre 1939 lernte mein Vater meine Mutter Hildegard kennen, schon kurze Zeit später wurde er aber mit Ausbruch des Krieges am 01.09.1939 erneut verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. Er erhielt die Häftlings-Nummer 5476 und wurde dem Elektrikerkommando zugeteilt. Gleichzeitig wurde er als „wehrunwürdig“ gekennzeichnet.

Im November 1939 ließen die Nazis das gesamte Lager ohne Verpflegung, da angeblich ein Schwein gestohlen wurde. Das hatte zur Folge, dass fast alle 12.000 Häftlinge des Lagers an Ruhr erkrankten und anschließend zwei Monate in Quarantäne mussten. Mein Vater erkrankte an einer schweren Pneumonie und konnte nur durch die Hilfe des illegalen Lagerwiderstands, der dafür sorgte, dass mein Vater drei Monate im Häftlings-Krankenrevier behandelt wurde, wieder gesund werden. Danach wurde er zum verantwortlichen Häftling (Kapo) seines Elektrikerkommandos bestimmt.

Im März 1942 wurden unerwartet 52 politische Häftlinge zu einem Sonderkommando ans Tor gestellt. Ihnen wurde u. a. vorgeworfen, geheime Versammlungen abgehalten zu haben. Meinem Vater warf man vor, einen Rundfunkempfänger mit gebaut zu haben. Auch in diesem Sonderkommando mussten die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Misshandlungen durch das SS-Personal waren an der Tagesordnung, auch mein Vater wurde vom Unterscharführer Bernhardt schwer misshandelt.

Im Mai 1942 wurde aus Mangel an Fachkräften in Weimar ein Kommando zur Fertigstellung eines im Rohbau befindlichen Bürohauses auf dem Gelände der Markthalle eingesetzt. Dank der Initiative der politischen Häftlinge des „Kommandos der Arbeitsvermittlung“ gelang es, 10 Häftlinge des Sonderkommandos diesem neuen Kommando zuzuteilen. Meinem Vater wurde die Leitung übertragen. Nach seiner Rückkehr aus Weimar übernahm er wieder die Leitung des Kommandos der DAW-Elektriker, 1944 wurde er zeitweise auch in einem Außenkommando in Kassel eingesetzt.

Mein Vater sprach sehr selten wie viele seiner Mithäftlinge über seine Zeit in Buchenwald. Vor allem auf Grund von Briefen, Dokumenten und auch aus dem Buch von Hans-Joachim Hartung „Signale durch den Todeszaun“ kann ich schließen, dass er aktiv im illegalen Widerstand tätig und ab 1943 Mitglied des „KPD-Partei-Aktives K.-L. Buchenwald“ war. Er war auch am Bau eines illegalen Rundfunkempfängers beteiligt. In „Signale durch den Todeszaun“ heißt es dazu:

„Die Freude war groß; auch Kapo Hans-Gerd Lehmann erfuhr von dem Erfolg, er wollte es
nicht glauben. Sie nahmen ihn mit ins kleine Krematorium, ließen ihm teilhaben an der
Freude. Kapo Lehmann, ein treuer Genosse aus Halle, dem Leonid und Alexej und manch
anderer mehr als einen guten Rat zu verdanken hatten, ließ sich auch die zweite von Julien
gefertigte Spule zeigen. Saubere Arbeit, sie bewies die erfahrene Hand des Fachmannes. Der
Versuch reizte. Hans-Gerd Lehmann löste die Befestigungsschrauben der Schalttafel,
wechselte die Spulen aus, nahm den Kopfhörer. Da: Bumbumbumm-bumm, das
Pausenzeichen der BBC.“


Auch am Senderbau war er beteiligt und besorgte den dafür notwendigen Umformer. Im o.g.
Buch heißt es:

„Kapo Hans-Gerd Lehmann hatte den Umformer in einer der SS-Garagen aufgespürt. Er stand als Reserve in einer Hallenecke und war tadellos intakt. Sowjetische Kameraden nahmen sich seiner an und machten ihn transportreif.“

Besonders befreundet war mein Vater mit dem sowjetischen Häftling Alexej Lysenko (Loschka), mit dem er bis zu seinem Tod verbunden war. Dieser charakterisiert meinen Vater in einem Brief an Dresdner Berufsschüler, die sich in einem Forschungsauftrag mit dem Empfänger- und Senderbau in Buchenwald befassten, wie folgt:

„Die deutschen Thälmann-Kommunisten reichten uns schon vom ersten Tage unserer Ankunft im „KLBu“, obwohl sie selbst grausam von den „Grünen“ und den SS-Männern verfolgt wurden, hilfreich die brüderliche Hand, uns, den sowjetischen Kriegsgefangenen. Aber erst im Sommer 1942, als die deutschen kommunistischen Widerstandskämpfer die Leitung innerhalb des Lagers in ihre starken, gerechten und uneigennützigen Hände nahmen, wurde eine dauerhafte Verbindung zwischen den deutschen und sowjetischen Widerstandskämpfern hergestellt.

Und jetzt, liebe Freunde, kurz etwas über einige der deutschen Genossen: Hans-Gerhard Lehmann aus Halle. Das war der zweite Kapo der Elektriker, ein ausgezeichneter Spezialist, mit den festen Überzeugungen eines wahren Kommunisten. Hans wusste über den zweiten zusammengebauten Rundfunkempfänger. Er half uns mit Einzelteilen und Rat.


Er konnte die englische Sprache und hörte mit Hilfe des zweiten Rundfunkempfängers die Sendungen des „BBC“ (die Signale vom „BBC“ waren so, als ob jemand an die Tür klopft.) Für den zu bauenden Rundfunkempfänger wurde ein Umformer (Gleichrichter) gebraucht. Auf meine Bitte hin „organisierte“ H. Lehmann ihn, brachte ihn ins Lager und übergab ihn mir persönlich.


Am Ende des Jahres 1942 und Anfang 1943 (die Werkstatt war schon auf dem Platz neben dem „Tor“) wurden unter Leitung von Hans-Gerhard Lehmann die transportierbaren (fahrbaren) Kraftwerke hergestellt. Die Arbeit wurde von Hans mit der gewöhnlichen deutschen Sauberkeit und Genauigkeit durchgeführt. Die Kraftwerke arbeiteten hier, im „KLBu“, ausgezeichnet. Trotzdem wurden nach einiger Zeit die aus dem Lager abgesandten Kraftwerke zurückgeschickt; bei den einen gingen die Lager auseinander, bei den anderen
brannte der Generator durch. Den Spezialisten fiel es schwer, die Ursache festzustellen. Das war die Arbeit von Hans-Gerhard Lehmann. In der Patronenwerkstatt des DAW blieb der Kompressor auf Grund einer unverständlichen Havarie stehen. Das war auch die Tätigkeit von Hans-Gerhard Lehmann und unabhängig von ihm die von Heinz Gronau. Hans Lehmann besorgte auch den Federstahl für die Herstellung der Stilette für die Bewaffnung der Widerstandkämpfer“.


Mein Vater nahm auch an der Gedenkfeier teil, die für Thälmann nach seiner Ermordung illegal durch deutsche politische Häftlinge organisiert wurde.

Ich wurde am 28.03.1940 in Halle geboren. Meinen Vater lernte ich erst 1945 nach seiner Befreiung kennen. Heiraten durften meine Mutter und mein Vater nicht. Das erfolgte erst 1945, wonach ich auch den Namen meines Vaters tragen durfte. Meine Mutter war geschieden. Ihre Tochter Rosmarie, meine Halbschwester, wurde ihr wegen des Umgangs mit einem Kommunisten weggenommen und ihrem geschiedenen Ehemann zugesprochen.

Meine Mutter wurde zu Beginn des Krieges dienstverpflichtet und musste im Schichtsystem in den Buna-Werken Schkopau arbeiten. Eine Unterbringung von mir in einer Wochenkrippe der Diakonie in Halle wurde mit der Begründung abgelehnt, dass für einen „Kommunisten- Bengel“ kein Patz sei. Daraufhin trat meine Mutter aus der Kirche aus. Ich kam zu Pflegeltern. Ich hatte großes Glück, denn ich wurde wie ein eigenes Kind betreut. Meinen Pflegeeltern war ich bis zu ihrem Tod liebevoll verbunden.

Am 11.04.1945 erhielt mein Vater mit der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald auch seine persönliche Freiheit wieder. Wir wurden gemeinsam mit meiner Halbschwester eine Familie. In dieser Zeit lernte ich auch aus gemeinsamen Begegnungen viele Genossen meines Vaters kennen. Ich erinnere mich verschwommen noch an Wilhelm Koenen, Bernhard Koenen, Robert Siebert, Otto Halle und Carl Gärtig.

Leider hielt die Ehe meiner Eltern nur 5 Jahre, ich wuchs dann bei meiner Mutter auf. Mein Vater heiratete nochmals und mein Halbbruder Günther wurde 1950 geboren. Mit ihm und seiner neuen Familie hatte ich immer sehr guten Kontakt. Mein Vater kümmerte sich weiter um meine Entwicklung.

Nach seiner Befreiung erhielt er von der KPD die Aufgabe als „Aktivist der ersten Stunde“, die Filmstelle der Provinz Sachsen-Anhalt aufzubauen und zu leiten. Diese Aufgabe erfüllte er bis zu seiner Verhaftung am 01.08.1950. Für diese Verhaftung wurde als Grund ein „Wirtschaftsvergehen“ angegeben, was sich als völlig haltlos erwies. Trotzdem wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Am 29.10.1951 wurde er ohne Ermittlungsverfahren und Prozess aus der Untersuchungshaft entlassen. Mein Vater vermutete damals, dass seine Verhaftung mit den Repressalien gegen einige „Buchenwalder“ zu dieser Zeit in Verbindung stand.

Er kämpfte um seine Rehabilitierung, die ihm am 23.07.1958 durch die ZPKK (Zentrale Partei- Kontrollkommission der SED) ausgesprochen wurde. Seine Parteimitgliedschaft ab 1929 wurde ihm wieder zuerkannt, und er erhielt dann auch seine Auszeichnung als „Kämpfer gegen Faschismus“.

Beruflich entwickelte er sich weiter. Er legte am 15.12.1956 seine Meisterprüfung im Elektrohandwerk ab und wurde am 01.02.1968 Ingenieur für Elektrotechnik. Er arbeitete in verschiedenen Leitungsfunktionen im VEB Technische Gebäudeausrüstung Halle und schließlich beim Aufbau von Halle-Neustadt als Kooperations-Ingenieur. Mein Vater verstarb am 16.05.1969 an Bronchial-Karzinom im Alter von 58 Jahren. Er konnte noch seine 40-jährige Parteizugehörigkeit miterleben, auf die er sehr stolz war.

Das Schwerste in seinem Leben war für ihn, wie er mir einmal mitteilte, dass ihn seine eigenen Genossen ungerechterweise eingesperrt haben. Trotzdem blieb er seiner Überzeugung von einer besseren Gesellschaft treu, wie viele andere Genossen, denen es ebenso ergangen ist. Er hat mich immer in dieser für ihn so schlimmen Zeit dazu angehalten, gut zu lernen und ein vorbildlicher Pionier zu sein. Deshalb war er mein Vorbild als aufrechter und ehrlicher Mensch. Als er 1958 rehabilitiert wurde, bin ich Kandidat der SED geworden und habe mich als Berufsoffizier bei der NVA verpflichtet.