Zum Protest der VVN-BdA vor dem Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober 2020

21. Oktober 2020

Liebe Kameradinnen und Kameraden,

liebe Freundinnen und Freunde,

ich war im Konzentrationslager Buchenwald bis zum Tag der Selbstbefreiung der Häftlinge am 11. April 1945 die Nummer 22514.

Die meisten meiner Kameraden und ich hatten erlebt, wie die Nazis an die Macht gebracht wurden, wie sie alles Andere in Blut erstickten und schließlich einen verheerenden Vernichtungskrieg vom Zaun brachen. Wir erfuhren, wie schnell der Verfassungsstaat von den Faschisten vernichtet wurde.

Am 19. April 1945 hob ich gemeinsam mit den 21.000 Überlebenden des Lagers die Hand, um zu schwören

»Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«

Der Schwur von Buchenwald ist während meines Lebens stets Kompass gewesen.

Seit dem 1. August 1947 bin ich Mitglied der Vereinigung der Verfolgten das Naziregimes, mein erstes Mitgliedsbuch hat die Nummer 43.465. Ich gehöre hier auf diese Protestkundgebung!

Dass ich nicht vor dem Berliner Abgeordnetenhaus stehe, bedrückt mich, aber Gesundheit und Alter zeigen mir Grenzen auf.

Mit meiner ganzen Solidarität bin ich und sind die Mitglieder der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald – Dora mit Euch, um nachdrücklich dagegen zu protestieren, dass die Berliner Finanzverwaltung auf Grund einer nicht bewiesenen Behauptung des bayerischen Inlandsgeheimdienstes der Bundesvereinigung VVN-BdA die Gemeinnützigkeit entzog.

Am 24. November 2019 artikulierte ich mein Unverständnis und meinen Protest im Namen der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald – Dora gegenüber dem Bundesfinanzminister. Er ließ mir mitteilen, dass er von dieser Entscheidung genau so überrascht gewesen sei wie ich. Dass die Verfassungstreue der VVN-BdA bezweifelt würde, hätte er sich nicht vorstellen können. Das erstaunte mich. Er ließ mir weiter mitteilen, dass im übrigen alles Rechtens sei. Das erstaunte mich nicht.

Wenn der Tag lang ist, wird viel geredet und geschrieben. Dazu ist der Beamtenapparat geschaffen. Wirklich getan wird nichts. Allerdings: Für einen zweiten Brief vom 1. Juli 2020 erhielten wir bis jetzt nicht mal eine Eingangsbestätigung.

Die vielen Proteste gegen die Entscheidung der Berliner Steuerverwaltung haben weder den Minister noch seine Apparate berührt, geschweige denn, zum Handeln bewegt.

Esther Bejaranos Aufschrei »Das Haus brennt und Sie sperren die Feuerwehr aus« blieb ohne Wirkung. Diese Ignoranz uns gegenüber, die wir den deutsche Faschismus in Konzentrationslagern erlebten und überlebten, ist in hohem Grade beleidigend, beleidigend und erniedrigend für die vielen nicht mehr Lebenden. Das können wir nicht einfach hinnehmen. Unser Zweifel an der Aufrichtigkeit derer, die Macht ausüben, ist groß.

Als im Frühjahr 2020 Innenminister Seehofer die AfD als »staatszersetzend« bezeichnete, stellte am 9. Juni 2020 das Bundesverfassungsgericht fest, das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb sei dadurch verletzt.

Ein Vergleich zwischen der AfD und der VVN-BdA verbietet sich.

Aber: Unsere bewährte antifaschistische Organisation soll angeblich linksextremistisch beeinflusst sein, weshalb sie kein Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb mehr bekommt, indem ihr die Gemeinnützigkeit entzogen wird. Das ist sehr bedenklich.

Weil es nichts gibt, was gemeinnütziger ist als ein Eintreten für eine Welt ohne Faschismus und Krieg, verlangen wir als Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald – Dora in solidarischer Verbundenheit mit allen Antifaschisten die Rücknahme der Aberkennung der Gemeinnützigkeit für die VVN-BdA!

Um den Gedanken von Esther Bejarano aufzugreifen: Das Haus brennt inzwischen lichterloh! Sperren Sie die Feuerwehr nicht weiter aus! Handeln Sie endlich!

Günter Pappenheim

Vorsitzender der Lagerarbeitsgemeinschaft

Buchenwald-Dora

Erster Vizepräsident des Internationalen Komitees

Buchenwald-Dora und Kommandos