Ansprache von Romani Rose zum 66. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald

25. April 2011

Verehrter Herr Präsident, lieber Bertrand Herz,
lieber Professor Knigge, liebe Freunde,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ganz besonders begrüße ich die Überlebenden, die heute unter uns sind. Ich freue mich auch sehr, dass der Vorsitzende unseres rheinland-pfälzischen Landesverbands Jacques Delfeld hier ist.

Die Verpflichtung, die aus der Erfahrung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen erwächst, ist längst zu einem Fundament unserer politischen Kultur und unseres europäischen Selbstverständnisses geworden. Dazu gehört die Einsicht, dass vor nunmehr 66 Jahren nicht nur die wenigen überlebenden KZ-Opfer befreit wurden, sondern die deutsche Gesellschaft als Ganzes:
befreit von einer mörderischen und menschenverachtenden Ideologie, der 500.000 Sinti und Roma und 6 Millionen Juden zum Opfer gefallen sind und die ganz Europa in den Abgrund gerissen hat.

Aus dem Wissen um die Barbarei, die im deutschen Namen begangen wurde, erwächst nicht nur die Verpflichtung, an alle Opfer der Nazi-Diktatur zu erinnern, sondern auch die Übernahme von Verantwortung für die Gegenwart. Dies ist nicht allein eine deutsche Aufgabe, sondern eine gesamteuropäische, wenn künftig Rassismus und Diskriminierung nachhaltig verhindert werden sollen. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass unsere heutige freiheitliche Demokratie – auf deren Errungenschaften wir wahrlich stolz sein können – durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und das Bewusstsein um ihre Abgründe gefestigt wird.

Dass die Stimmen der Zeitzeugen allmählich verstummen, ist gewiss eine schwere Bürde. umso mehr müssen wir die Herzen und Köpfe der jungen Menschen für demokratische Werte und Menschenrechte gewinnen. Um Jugendliche zur Zivilcourage zu erziehen, brauchen wir Beispiele aus der Geschichte, die als Vorbilder dienen: mutige Männer und Frauen, die trotz der Gefahren für sich und ihre Familien nicht die Augen verschlossen, sondern sich aktiv dem Unrecht widersetzten. Auch Angehörige unserer Minderheit verdanken solchen Menschen mit Gewissen und aufrechtem Gang, die sich für die Verfolgten einsetzen, ihr Überleben. Zu ihnen gehört der niederländische Sinto Zoni Weisz, der als achtjähriger Junge von einem Polizisten, einem Mitglied der niederländischen Widerstandsbewegung, von der Deportation nach Auschwitz gerettet wurde. Zoni Weisz überlebte als Einziger seiner Familie den Holocaust. Dass er
am 27. Januar dieses Jahres als erster Vertreter unserer Minderheit im Deutschen Bundestag die Gedenkrede hielt, betrachte ich als eine historische Zäsur.

Meine Hoffnung ist, dass von dieser Gedenkstunde im Bundestag ein Signal an die Politik und Gesellschaft, an die Wissenschaft, die Medien, aber auch die Gedenkstätten ausgeht, den jahrzehntelang verdrängten Völkermord an den Sinti und Roma noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, gerade auch im Rahmen staatlicher Erinnerungspolitik. Allzu oft mussten wir erleben, dass das Leid unserer Menschen in offiziellen Gedenkakten allenfalls am Rande Erwähnung fand. Die Kontinuität rassistischer Feind- und Zerrbilder über unsere Minderheit ist ganz wesentlich in diesem blinden Fleck der historischen Erinnerung begründet.

Wir erleben in der jüngeren Vergangenheit europaweit nicht nur ein Erstarken rechtsextremer Parteien und Gruppierungen, sondern auch eine dramatische Zunahme von rassistisch motivierten Übergriffen. Nach den Recherchen der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ und dem Berliner Tagesspiegel wurden in Deutschland seit 1990 mindestens137 Menschen Opfer rechter Gewalt – eine wahrhaft erschreckende Zahl.

In vielen europäischen Staaten gehören Sinti und Roma zu bevorzugten Zielgruppen rassistisch movierter Gewaltakte. Selbst Vertreter bürgerlicher Parteien scheuen in manchen Ländern nicht davor zurück, sich in populistischer Manier aus dem Arsenal tief verwurzelter antiziganistischer Klischees und Zerrbilder zu bedienen, um auf Stimmenfang zu gehen. Dieses Schüren von Vorurteilen um des eigenen politischen Vorteils willen bereitet dem organisierten Rechtsextremismus und seiner rassistischen Ideologie den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Verschärft durch die Wirtschaftskrise und die Suche nach Sündenböcken entsteht so ein gesellschaftliches Klima, das die Schwelle für
Gewalttaten immer stärker sinken lässt.

Die feigen rassistischen Morde an elf ungarischen Roma durch Neonazis seit 2008, die selbst vor der Ermordung eines fünfjährigen Kindes und dessen Vater nicht zurückschreckten, stellen in ihrer Brutalität und Skrupellosigkeit eine neue Dimension der Gewalt gegen unsere Minderheit dar. Vor drei Wochen hat im Landgericht Pest der Prozess gegen vier Tatverdächtige, die für insgesamt 6 Morde verantwortlich gemacht werden begonnen; das Urteil wird voraussichtlich noch in diesem Jahr verkündet. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma wird das Verfahren zusammen mit ungarischen
Roma-Organisationen genau verfolgen.

Seit vielen Jahren setzten wir uns bei Gesprächen mit der ungarischen Regierung, aber auch bei Regierungsvertretern anderer Staaten dafür ein, dass die politisch  Verantwortlichen jede Form von Rassismus eindeutig verurteilen und sich insbesondere von rechtsextremen Parteien und Organisationen klar abgrenzen. Entwicklungen wie aktuell in Ungarn, wo rechtsextreme Vereinigungen und Parteien paramilitärische Aufmärsche in Ortschaften organisieren, um gegen die dort lebenden Roma massiv bedrohlich vorzugehen, sind äußerst besorgniserregend.

An manchen Orten riegeln Mitglieder der rechtsextremen Partei „Jobbik“ und ihr nahestehender Garden von Roma bewohnte Viertel regelrecht ab. Aus Angst verlassen die Roma-Familien kaum noch ihre Häuser, ihre Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Oft unternehmen Bürgermeister und Stadtverwaltung nichts gegen diesen Aufmarsch von Rechtsextremisten – das Gewaltmonopol des ungarischen Staates wird von „Jobbik“ und den Garden regelmäßig außer Kraft gesetzt.
Ich habe den ungarischen Innenminister daher aufgefordert, den Schutz der  Roma-Minderheit in Ungarn zu garantieren und die rechtsextremen Garden, die in der Tradition der faschistischen „Pfeilkreuzler“ stehen, zu verbieten. Hierzu gehört auch das Verbot rassistischer Propaganda im Internet.

Auch aus einer Reihe anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wie Tschechien, Slowakei, Rumänien oder Bulgarien werden ähnliche Auftritte rechtsradikaler Organisationen berichtet.

Vor gut einer Woche kam es auch in Deutschland, nämlich in Trier, zu Übergriffen von jungen Neonazis in einem Wohngebiet, in dem viele Sinti leben. Aus einem Fahrzeug heraus wurden Flaschen auf die Anwohner und auf geparkte Autos geworfen und dabei Nazi-Parolen gerufen. Der Staat ist aufgerufen, solchen gezielten Provokationen entschieden Einhalt zu gebieten, um eine drohende Eskalation der Gewalt von vorneherein zu verhindern.

Die Staatengemeinschaft muss sich in aller Klarheit gegen diese Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Kultur engagieren und – im Rahmen einer internationalen Richtlinie – staatenübergreifend Maßnahmen zur Bekämpfung des organisierten und gewaltbereiten Rechtsextremismus entwickeln. Die Lage für Sinti und Roma in Europa ist darüber hinaus von einer rassistischen Ausgrenzungspolitik
bedroht, die von staatlicher Seite her in immer mehr Ländern forciert wird: wie zuletzt durch die Gesetzesinitiative in Rumänien, durch die der Minderheit dort – unter Verletzung der einschlägigen europäischen Normen – die Selbstbezeichnung als Roma verboten werden soll, um sie durch die abwertende Fremdbezeichnung „Zigeuner“ zu ersetzen. Eine solche Entrechtung und Diskriminierung zielt darauf, die Minderheit aus der nationalen Verantwortung auszugrenzen; ja sie zielt letztlich auf Vertreibung.

Es ist immerhin ein ermutigendes Zeichen, dass die Europäische Kommission im letzten Sommer erstmals direkt auf Diskriminierung und Stigmatisierung reagiert und von der französischen Regierung die Umsetzung europäischen Rechts verlangt hat. Nicht nur namhafte Künstler und Intellektuelle, sondern viele Tausende französische Bürgerinnen und Bürger haben gegen die rechtswidrigen Abschiebungen und die Stigmatisierung von Roma protestiert. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich die Bedeutung einer kritischen Öffentlichkeit, die auf dem Engagement vieler einzelner Menschen beruht.

Menschen- und Minderheitenrechte sind unteilbar. Sinti und Roma sind seit Jahrhunderten in den Ländern Europas beheimatet, sie sind integraler Bestandteil europäischer Geschichte und Kultur. Diskriminierung, rassistisch motivierte Hetze und Gewalt gegenüber Sinti und Roma müssen durch die politisch Verantwortlichen und die europäischen Institutionen ebenso konsequent geächtet werden wie die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Dies ist die Lehre, für die Buchenwald und all die anderen Stätten des nazistischen Terrors stehen.
Ich danke Ihnen.