Ein bewegender Tag

19. April 2011

Im Kinosaal der Gedenkstätte Buchenwald waren nur noch vereinzelt Plätze zu finden, an diesem Sonntagvormittag. Von überall waren Angehörige, Hinterbliebene von Häftlingen und viele Gäste gekommen. Zum 17. April 2011 hatte die Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. (LAG) eingeladen, der Selbstbefreiung der Häftlinge vor sechsundsechzig Jahren zu gedenken. Mit dem Einspiel von Fotos ehemaliger Häftlinge und ihrer Häftlingsnummern, auch von Frauen aus dem Außenkommando HASAG Leipzig, hatte die Veranstaltung eine beeindruckende Einstimmung erfahren.

Günter Pappenheim, Vorsitzender der LAG, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein und ließ Grüße übermitteln:

Der Prozess der Veränderung der LAG werde auch dadurch sichtbar, dass an der Gedenkveranstaltung kein deutscher Häftling mehr teilnehmen könne. Der Staffelstab sei weitergeben und die Verantwortung zur Wahrung des Vermächtnisses werde sehr bewusst von nachfolgenden Generationen wahrgenommen. Dass das so bleibe, sei innerstes Bedürfnis der noch lebenden ehemaligen Häftlinge. Es sei anzumahnen, dass die Geschichte der Konzentrationslager wahrheitsgemäß dargestellt werde. Eine Anwendung der Totalitarismustheorie bei der Gleichsetzung von KZ und Speziallager sei zurückzuweisen. Die Rolle der kommunistischen Funktionshäftlinge (Kapo), die stets die Gratwanderung zwischen SS-Befehl und Sorge um die Kameraden bewusst gingen, sei zu würdigen.

Im Mittelpunkt des diesjährigen Gedenkens stand Walter Krämer, Schlosser, Kommunist, Kapo im Häftlingskrankenbau, dem es gelang, vielen Häftlingen das Leben zu retten und einen entscheidenden Stützpunkt des organisierten illegalen Widerstands aufzubauen.

In einem eindrucksvollen Referat entwickelt Professor Karl Prümm, Marburg, die Biografie Walter Krämers, der sich als Kommunist, bewährter Stratege und Organisator unter den äußerst komplizierten Lagerbedingungen mit ärztlicher Kompetenz der Erhaltung des Lebens zuwandte. Prof. Prümm hob die moralische Überlegenheit des Siegener Schlossers hervor, der sich im Selbststudium unter Lagerbedingungen medizinische Kenntnisse aneignete und als Arzt praktizierte. Promovierte und approbierte SS-Ärzte dagegen erwiesen sich in nicht wenigen Fällen als Scharlatane und betätigten sich als Mörder. Dass Walter Krämer von Yad Vashem in Israel als »Gerechter unter den Völkern« geehrt wurde, ist Würdigung des Humanisten Krämer.

Wie sich in Siegen Konservative sträuben, dem Sohn ihrer Stadt offizielle Würdigung zuteil werden zu lassen, schilderte Joe Mertens von der VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein. Bereits 1947 wiesen sie erste Bemühungen zurück, Krämer in seiner Geburtsstadt zu ehren. Seit sechzehn Jahren wird intensiv darum gerungen, immer neue Widerstände gegen eine angemessene Ehrung zu beseitigen. Er versicherte unter dem Beifall der Anwesenden, dass in Siegen weiter um die Ehrung Walter Krämers gekämpft wird. Der Redner fand auch Beifall bei Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma sowie der Bundestagsabgeordneten Willi Brase, SPD, Regionsvorsitzender der DGB-Region Südwestfalen und SPD-Unterbezirksvorsitzender Siegen-Wittgenstein; Dr. Dieter Dehm, DIE LINKE; Jens Petermann, DIE LINKE und Raimund Klauser von der Fraktion der Grünen im Stadtrat von Siegen.

Der Ritter der Ehrenlegion Frankreichs, Bertrand Herz, Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) richtete sehr persönliche Worte an die Anwesenden und hob seine größte Achtung vor den deutschen Widerstandskämpfern hervor, explizite den deutschen Kommunisten. Auch er verwies auf den sich vollziehenden Generationswechsel und begrüßte herzlich die Gedenkveranstaltung der LAG.

Liedbeiträge von Dr. Dieter Dehm trugen dazu bei, dass die Veranstaltung nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird.

Mit der Verabschiedung einer mit starkem Beifall aufgenommenen Erklärung wurde das Treffen der Nachkommen beendet.

Bei der Gedenkkundgebung des IKBD auf dem Appellplatz sprach Romani Rose über die vielfältigen rassistischen Übergriffe und gewaltsame Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland und anderen europäischen Staaten. Er forderte Wachsamkeit, Vernunft und Zivilcourage ein. Abschließend bat er die Stadt Siegen eindringlich, den großen Humanisten Walter Krämer zu ehren.

„Er hat sich für das Überleben vieler Menschen eingesetzt. Sein parteiübergreifender Einsatz macht Mut und ist ein Zeichen für Menschlichkeit und Widerstand. (…) Jetzt, wo die Stimmen der Zeitzeugen verstummen, werden Symbole gebraucht.“

In einem Vorraum des Krematoriums von Buchenwald wurde am Nachmittag unter großer Anteilnahme eine Gedenktafel für Walter Krämer von der LAG Buchenwald-Dora enthüllt.

„Seid euch sicher, wir tun unser Bestes! Heute und in Zukunft“, hatte Joe Mertens am Ende seiner Rede gesagt. Das ist das Versprechen an die noch lebenden ehemaligen Häftlinge, das von diesem bewegenden Tag ausging.

Gerhard Hoffmann