Ansprache von Dr. Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, aus Anlass des 63. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald am 11.04.2008.

17. April 2008

Sehr geehrter Herr Minister,

Sehr geehrter Herr Romani Rose,

Sehr geehrter Herr Professor Knigge,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich habe lange mit mir gerungen, ob ich der Einladung, heute hier zu sprechen, überhaupt Folge leisten soll – und kann.
Denn mein eigener Vater ist hier in Buchenwald befreit worden vor genau 63 Jahren, und daher ist das für mich natürlich ein ganz spezieller, ein nahezu heiliger Ort, an dem ich heute zum allerersten Mal bin.

Das nur sehr knapp vorneweg – haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich auf sehr Persönliches nun aber nicht näher eingehen möchte.
In diesem Jahr jährt sich die Reichs-Pogromnacht zum siebzigsten Mal.
Das alleine wird Anlass sein für eine ganze Serie von Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr – und die wir heute hier gemeinsam begehen, hat natürlich auch deshalb einen ganz besonderen Charakter.
Gibt es daher denn eine Inflationierung von Gedenken?
Gedenken als ritualisierte Pflichtübung? Ein leeres Ritual?
Freilich:
Selbst ritualisiertes Gedenken ist immer noch besser als organisiertes Vergessen.
Fatal wird es aber, wenn die süße Versuchung des Vergessens sozusagen zur Einstiegdroge wird auf einem Weg, der über das vermeintliche Verschönern, das „Aufhübschen“, am Ende sogar zum Verändern und zur Verfälschung der Wahrheit führt.
Und tatsächlich:
Mehr und mehr erleben wir gemeinsam in den letzten Jahren den offensichtlichen Versuch, Geschichte neu zu bewerten.
Ja: Die Umdeutung der Geschichte in Deutschland ist in vollem Gang.
Denn:
Inzwischen präsentiert man uns unter den Deutschen jener Zeit fast nur noch Opfer des Zweiten Weltkriegs, nahezu täglich werden es mehr.
Man fragt sich dann schon verwundert: Wo waren denn eigentlich die Täter?
Deutsche als Opfer im Zweiten Weltkrieg – dieses Thema wird inzwischen lauter, auch schriller, transportiert und inszeniert.
Dabei wird scheinbar versöhnlich, in Wahrheit aber: schrecklich scheinheilig, suggeriert: Am Ende waren doch alle Menschen – und daher auch alle Deutschen jener Zeit – irgendwie Opfer. Und haben wir daher nicht alle gemeinsam gelitten?
Kein Zweifel: Jedes menschliche Leid ist ein Leid zuviel.
Und jedes einzelne unverschuldete Leid verdient unser uneingeschränktes Mitgefühl.
Aber: Verwischen wir auch bitte nicht die Fakten.
Zwar gab es niemals eine Kollektivschuld für das größte Verbrechen der Geschichte.
Aber sehr wohl gab es individuelle Schuld – die aber gab es massenweise.
Ja: Es gab millionenfache individuelle Schuld von Deutschen.
Das von der großen Mehrheit der Deutschen über Jahre begeistert getragene Nazi-Regime betrieb die Verbrechen gegen die Juden und Sinti und Roma und Andere ausdrücklich als Staatsziel.
Und viele Deutsche jener Zeit stimmten dem, jedenfalls im Grundsatz, von Herzen zu – wenn auch nicht immer in den vielen hässlichen Details.
Es stimmt schon:
Selbstverständlich kann und darf man die Menschen im heutigen Deutschland nicht für die Vergehen und Verbrechen der Menschen jener Zeit verantwortlich machen.
Und von „Schuld“ etwa derer, die heute hier leben, darf man erst überhaupt nicht zu reden, ja nicht einmal daran zu denken beginnen.

Nichts wäre ungerechter – und auch schädlicher.
Aber: Sehr wohl kann und muss man die Menschen von heute verantwortlich dafür machen, wie sie mit der Erinnerung an früher umgehen.
Und wir verbitten uns hier ausdrücklich alle Vergleiche auf einer moralisch schiefen Ebene:
Denn: Der Holocaust ist mit nichts, mit keinem Leid von Deutschen während der Nazizeit zu vergleichen – und sollte auch mit gar nichts gleich gesetzt werden. Natürlich ist, um ein oft genanntes Beispiel zu nennen, unbestritten und unbestreitbar, dass es bei den Vertriebenen großes, unendlich schweres Leid gegeben hat.
Und jedes Leid schmerzt immer und wird subjektiv als ganz besonders schwer empfunden.
Der eigene Schmerz ist stets der heftigste.
Das ist nur menschlich.
Aber wir heute müssen dieses Leiden doch auch historisch einordnen.
Und zur historischen Wahrheit gehört:

Ohne den Überfall von Nazi-Deutschland auf den Osten, ohne die brutale Naziherrschaft überhaupt, und ja: ohne die Verbrechen von Deutschen im Osten hätte es niemals die schrecklichen Verbrechen an Deutschen im Osten gegeben.

Damit das klar ist:

Das eine rechtfertigt niemals das andere – das darf nicht sein.
Aber die Kette von Ursache und Wirkung darf auch nicht einfach zerschmettert werden.
Und zur historischen Wahrhaftigkeit gehört auch:
Gerade unter jenen, die später vertrieben wurden, gab es viel zu viele, die Hitler und das Naziregime jahrelang begeistert feierten und trugen und so auch überhaupt erst möglich machten.
Freilich: Viele, sehr viele Unschuldige waren auch unter den Opfern der Vertreibung. Große, schwülstige TV-Schmonzetten der letzten Zeit zu diesem Thema, oft sehr heikles „Histo-tainment“, offenbaren hier aber oft nur einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit und verstellen so häufig deren größeren Teil.

Ja: Das Leid der Vertriebenen muss und soll anerkannt und gewürdigt werden.
Und es soll nun also offiziell in einem „sichtbaren Zeichen der Erinnerung“ gewürdigt werden, ausgerechnet und einseitig in Berlin.
Viel besser wäre freilich ein gemeinsames europäisches Erinnern gewesen, wenn es denn gelungen wäre, das Gedenken an Vertreibung nicht zum Anlass und Objekt von Streit und Provokation zu machen, sondern es als Chance zu nutzen, im gemeinsamen Erinnern ein Stück Annäherung und Zukunftsperspektive zu gewinnen.

Schade, dass diese Chance nun ausgelassen und verspielt wird.
Wenn dieses Zeichen nun also umgesetzt wird, so hoffe ich sehr, dass alle Beteiligten die nötige Sensibilität und ein ganz besonders feines Fingerspitzengefühl aufbringen werden.

Und gerade nicht hilfreich wäre es, um es noch sehr milde auszudrücken, in diesem Zusammenhang, – und ich bewege mich hier im allerdings sehr ernst gemeinten Konjunktiv – wenn der Bund der Vertriebenen immer wieder das Schicksal der Vertriebenen mit dem Schicksal der Holocaust-Opfer auf eine Stufe zu stellen versuchte.

Eine solche Gleichmacherei wider besseres Wissen und wider jedes Gefühl von Anstand und Moral wäre für uns empörend und verletzend – und niemals würden wir das akzeptieren können.
Diese Besonderheit bitte ich sehr eindringlich alle, die nun mit dem offenbar schon beschlossenen „sichtbaren Zeichen zur Vertreibung“ befasst sein werden, nicht aus den Augen und vor allem nicht aus dem Herzen zu verlieren.
Wir wollen ganz bestimmt keinen geschmacklosen Wettlauf der Opfer inszenieren.
Wir wollen auch keine anrüchige Hit-Parade der Leiden aufstellen.
Aber: Eine simple und tumbe Gleichmacherei darf es nicht geben.
Und einen unappetitlichen Einheits-Opfer-Brei sollte niemand anrühren wollen.
Denn wer genau das dennoch versuchte, der katapultierte sich und seine ernst zu nehmenden Anliegen geradezu blitzartig aus jedem Anschein von Seriosität hinaus.

Meine Damen und Herren,

Die Frage stellt sich:

Wie bewahren wir die Erinnerung denn in einer Zeit, in der es leider immer weniger Holocaust-Überlebende geben wird?

Für mich ist auch persönlich ganz besonders wichtig:

Wir müssen verhindern, dass die Zeit von Holocaust und Verfolgung einfach steril dokumentiert, sauber sortiert, leblos registriert, bürokratisch archiviert, nüchtern historisiert, kühl akademisiert wird.

An uns, an der Zweiten Generation – und nun inzwischen zunehmend auch an der Dritten Generation – ist es, unbedingt und mit aller Kraft dafür zu sorgen, dass die wichtige Stafette der Erinnerung weiter getragen wird.

Dabei dürfen wir gerade nicht nur kalte Fakten transportieren.

Sondern ganz speziell auch die Gefühle, die mit der Schoah verbunden sind:
Die Gefühle von Scham und Ohnmacht, von Wut und Tränen, von Verzweiflung und Schmerz, von Trauer und Leid.

Die Schoa ist eben doch kein trockenes Lehrfach.
Die Schoa ist ein ganzes Meer, ein ganzer Ozean an höchst intensiven Emotionen.

Gefühle pur – ein Sturm, eine Flut an kraftvollen Emotionen.
Wir, die wir im Schatten des Leids unserer Eltern aufgewachsen sind, mit ihren Träumen und ihren Alpträumen, ihren Ängsten und dem ewigen, oft überlebensgroßen Schmerz – auch wir haben einiges zu erzählen.

Dazu müssen gerade auch wir in Zukunft mehr Mut haben.
Aber wir brauchen dafür Menschen, die das alles überhaupt interessiert.

Menschen, die zuhören wollen, damit sie verstehen können.