Rede von Dr. Holger Poppenhäger
17. Mai 2010
Grußwort zur Gedenkveranstaltung vor dem ehemaligen Krematorium des KZ Mittelbau-Dora, Nordhausen (Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrter Herr Avraham Lavi,
sehr geehrter Herr Dr. Boris Pahor,
sehr geehrte Überlebende der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora,
sehr geehrte Veteranen der US-Armee,
sehr geehrter Botschafter Yoram Ben-Zeev,
sehr geehrte Präsidentin und Vizepräsidentinnen des Thüringer Landtags,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Volkhard Knigge,
sehr geehrter Herr Dr. Jens-Christian Wagner,
sehr geehrte Mitglieder des Vereins „Jugend für Dora“
meine sehr geehrten Damen und Herren,
am gestrigen Tage jährte sich zum 65. Mal die Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora durch amerikanische Truppen. Gedenkveranstaltungen wie die heutige bedeuten für uns alle Momente der inneren Einkehr – Augenblicke des Innehaltens. Sie konfrontieren uns immer wieder mit dem unermesslichen Leid unzähliger unschuldiger Menschen.
Zugleich dienen sie dem ehrenden Gedenken, der Erinnerung an die vielen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, die für uns an einem authentischen Ort wie dem ehemaligen Krematorium des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora besonders fassbar werden und emotional berühren. Eine solche Gedenkveranstaltung ruft Erinnerungen an traumatische Schicksale und Erlebnisse wach, die die überlebenden Opfer zeit ihres Lebens begleitet haben und begleiten werden.
Wir sollten allerdings auch nicht vergessen, dass ein solcher Gedenktag auch zu Dank verpflichtet. Dank dafür, dass dem nationalsozialistischen Rassenwahn, einem menschenverachtenden Regime ein Ende gesetzt wurde. Dank dafür, dass mutige Männer und Frauen unter Einsatz ihres Lebens innerhalb und außerhalb Deutschlands Widerstand geleistet haben, um der nationalsozialistischen Barbarei Einhalt zu gebieten. Dank, dass das nationalsozialistische Regime militärisch niedergerungen wurde und damit tausende, ja Millionen Menschenleben – auch und vor allem hier im Konzentrationslager Mittelbau-Dora und seinen Außenlagern – gerettet und von unsäglichen Qualen erlöst wurden.
Für uns Deutsche, die nach der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur geboren wurden, bleibt Scham eingedenk der Verbrechen, die in deutschem Namen verübt wurden. Scham angesichts des schier unbegreiflichen Ausmaßes menschlichen Leids. Scham darüber, dass ein Volk, das sich selbst zu den zivilisiertesten zählte, zu solcher Barbarei imstande war. Scham aber auch, dass die Mehrheit der Deutschen schwieg und die nationalsozialistischen Verbrechen widerstandslos erduldete. Scham umso mehr, dass viele Deutsche bereitwillig dem nationalsozialistischen Ungeist folgten.
Da es eine Wiedergutmachung im eigentlichen Sinne für die nationalsozialistischen Gräueltaten nicht geben kann, bleibt uns zuallererst, die Opfer und deren Angehörige um Vergebung zu bitten und uns vor ihnen zu verneigen. Darüber hinaus resultiert aus der deutschen Geschichte aber eine besondere historische Verantwortung für die begangenen Verbrechen, der wir uns mutig und entschlossen zu stellen haben. Diese historische Verantwortung besteht zweifellos gegenüber dem israelischen Volk, insbesondere im Schutz der Existenz des Staates Israel. Darüber hinaus erwächst aber ebenso Verantwortung gegenüber den Völkern Europas, die unter deutschem Größenwahn und der rassistischen Weltanschauung des Nationalsozialismus gelitten haben.
Die Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora liefert dafür ein beredtes Zeugnis. Schließlich wurden hier Menschen zahlreicher europäischer Nationalitäten erniedrigt, gequält und kamen zu Tode. Gerade deshalb müssen wir Deutsche entschiedene Befürworter der europäischen Verständigung sein und die europäische Integration weiter voran treiben. Hierzu darf und will ich als Thüringer Vertreter im europäischen Ausschuss der Regionen einen persönlichen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass ich dort arbeite bspw. mit Madame Claude Du Granrut, einer Vertreterin aus der Picardie – der französischen Partnerregion Thüringens – zusammen arbeite, deren Großvater als Häftling im Konzentrationslager Mittelbau-Dora interniert wurde.
Ich möchte in meiner Funktion als Thüringer Justizminister ebenfalls betonen, wie wichtig es war und bleibt, dass Opfer von Gewaltherrschaft, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ihrem Recht gelangen. Dass Verantwortliche abgeurteilt werden und ihrer gerechten Bestrafung nicht entgehen. Heute erfüllen vorrangig der Internationale Strafgerichtshof und das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag diese Aufgabe.
Wie uns die Erfahrungen aus der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen gezeigt haben, ist für eine möglichst lückenlose Ahndung die Aufhebung von Verjährungsfristen zwingend geboten. In Deutschland wurde dies nach langjährigen Auseinandersetzungen erst durch einen Beschluss des Deutschen Bundestages vom 3. Juli 1979 endgültig erreicht. Dadurch wird auch noch heute eine juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland sichergestellt, wie der Fall des ehemaligen ukrainischen KZ-Aufsehers Iwan Demjanjuk aktuell belegt.
Sehr geehrte Überlebende der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora,
ich empfinde große Dankbarkeit dafür, dass Sie durch Ihre Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung ein Zeichen der Versöhnung setzen und damit einen wesentlichen Beitrag zur gegenseitigen Verständigung leisten. Wir alle wissen diese – wahrlich nicht selbstverständliche und von menschlicher Größe zeugende – Geste zu schätzen. Möge unser gemeinsames Erinnern und Innehalten helfen Brücken zu bauen, über Grenzen und Generationen hinweg zu verbinden.
Thüringen zählte zu den nationalsozialistischen Hochburgen. Insofern tragen solche Versöhnungsgesten einen besonderen Stellenwert in sich. Die Einrichtung des Konzentrationslagers Buchenwald im Juli 1937 und des später eigenständigen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora im August 1943 bildeten die menschenverachtenden Gipfelpunkte einer länger zurückreichenden nationalsozialistischen Geschichte in Thüringen. Ein erstes Fanal wurde hier mit der Aufhebung des NSDAP-Verbots im Jahre 1924 gesetzt. Bereits zu Beginn der 1930er Jahre gelang der Thüringer NSDAP eine erstmalige Regierungsbeteiligung in Deutschland. Im Juli 1932 übernahmen Hitlers Schergen die Führung der Landesregierung.
Später – im März 1942 – wurde der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel durch Hitler zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich“ berufen. Eine zentrale Funktion, in der er Zwangsdeportationen von Menschen aus ganz Europa zum Arbeitseinsatz in der deutschen Rüstungsindustrie anordnete. Der rücksichtlosen Verwendung in der Rüstungsindustrie fielen Häftlinge in den Konzentrationslagern, politische und Kriegsgefangene sowie zwangsumgesiedelte Ausländer gleichermaßen zum Opfer.
Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora nahm jedoch im System nationalsozialistischer Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie eine zentrale Stellung ein. Es war eines der ersten und zugleich das größte seiner Art in Deutschland. Katastrophale sanitäre Bedingungen, Hunger, Durst und Kälte bestimmten den Alltag der Inhaftierten. Auszehrung und völlige Entkräftung kosteten tausende Häftlinge das Leben. Nachdem sich das Lager ab Frühjahr 1944 zur Drehscheibe des Häftlingsverschubs entwickelte, verschärfte sich die Situation noch zusätzlich. Insgesamt wurden etwa 60.000 Menschen nach Mittelbau-Dora verschleppt; mehr als 20.000 Tote waren zu beklagen.
Die Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora konfrontiert uns mit konkreten Fragen nach ethischer Verantwortung von Architekten, Ingenieuren und Wissenschaftlern, die sich willfährig in den Dienst gigantomanischer Rüstungs- und Bauprojekte stellten und für deren Umsetzung sehenden Auges unendliches menschliches Leid in Kauf nahmen.
Gedenkorte wie das ehemalige Konzentrationslager Mittelbau-Dora werfen nicht nur Fragen auf, sondern erfüllen auch eine elementare Funktion als „Lernort“ für heutige und zukünftige Generationen. Sie klären über die Ursachen und Folgen nationalsozialistischer Herrschaft und deren Verbrechen auf und machen diese anhand der Darstellung von Einzelschicksalen sichtbar, erfahrbar und begreifbar. Weil wir aus historischen Erfahrungen um die Verführbarkeit der Menschen, aber auch aus Vorfällen wie der unlängst geschehenen, unsäglichen Schändung des jüdischen Friedhofs in Heiligenstadt um die Gefahren des Rechtsextremismus wissen, sind und bleiben solche „Lernorte“ unverzichtbar.
Die direkte Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus an den „Lernorten“ – eingebettet in wissenschaftliche Forschung und pädagogische Konzepte – fördert die historisch-politische Bildungsarbeit und folgt damit den Vorstellungen des „Vermächtnisses der Überlebenden“ vom Januar 2009. Diese Beiträge gegen das Verdrängen, Verleugnen und Vergessen unterstützen ganz wesentlich zivilgesellschaftliche Anstrengungen gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.
Wie wir anhand der Gedenkstätte Mittelbau-Dora aber ebenso erkennen können, bilden solche „Lernorte“ einen Nukleus für die notwendige Transformation unseres kollektiven Gedächtnisses. Da die direkte mündliche Überlieferung der nationalsozialistischen Verbrechen durch Zeitzeugen nicht dauerhaft möglich ist, muss uns die dauerhafte Tradierung solcher Erinnerungen, d.h. die Übertragung in das so genannte kulturelle Gedächtnis gelingen. Die dauerhafte Verankerung im kulturellen Gedächtnis bietet die beste Gewähr, nicht abermals erleben zu müssen, wozu Menschen im Namen rassistischer und menschenverachtender Ideologien in der Lage sind. Gerade wir Deutschen müssen uns dieser Daueraufgabe immer wieder stellen.
Dieser Aufgabe verschreibt sich bspw. das Projekt „Die Zukunft der Zeitzeugen“ des Vereins „Jugend für Dora“. Der Verein führt in vorbildlicher Weise Schüler und Jugendliche aus ganz Europa zusammen und begreift sich als Verbindungsglied zwischen den Überlebenden des ehemaligen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, der Gedenkstätte wie auch der Zivilgesellschaft. Dessen Zeitzeugen-Projekt überliefert zum einen die persönlichen Erfahrungen und Schicksale der KZ-Überlebenden in Form von Videodokumentationen. Zum anderen bezieht es aber auch deren Vorstellungen, Wünsche und Erwartungshaltungen im Hinblick auf ein würdiges zukünftiges Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen ein.
Mit diesem Instrument wird also das Einwirken solcher Zeitzeugen-Erinnerungen auf das kulturelle Gedächtnis ermöglicht. Dadurch stellen wir sicher, dass auch für zukünftige Generationen anhand individueller Schicksale die Ausmaße der unvergleichlichen nationalsozialistischen Verbrechen emotional erlebbar und nachvollziehbar bleiben.
Für dieses Engagement möchte ich allen Beteiligten ausdrücklich danken. Denjenigen, die den Anstoß für die Gründung des Vereins im Jahre 1995 gegeben haben. Denjenigen, die sich seither in die Vereinsarbeit, namentlich in das Zeitzeugen-Projekt, einbringen. Aber nicht zuletzt auch denjenigen, die als Gesprächspartner oder in anderer Weise helfend zur Seite stehen, um den nachhaltigen Erfolg des Projekts und der Vereinsarbeit zu gewährleisten.
Lassen Sie mich zum Abschluss zum Ausdruck bringen, welche Ehre und innere Bewegung es für mich bedeutet, im Rahmen der heutigen Gedenkveranstaltung insbesondere zu Ihnen und mit Ihnen – verehrte Überlebende der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora – sprechen zu dürfen.
Ich möchte mit den Worten des stellvertretenden Ministerpräsidenten Christoph Matschie schließen, die dieser gestern Mittag in Buchenwald sprach: „Dieser Ort darf niemals schweigen“. Dies gilt auch für Mittelbau-Dora.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und erlaube mir nun das Wort an die Herren Avraham Lavi und Boris Pahor zu übergeben.
Dr. Holger Poppenhäger, Justizminister des Freistaats Thüringen