Rede von Elie Wiesel anlässlich des Besuchs von US-Präsident Barack Obama im ehemaligen KZ Buchenwald
20. Juli 2009
Der Friedensnobelpreisträger und Buchenwald-Häftling Elie Wiesel hat anlässlich des Besuchs von US-Präsident Barack Obama im ehemaligen KZ Buchenwald am 5. Juni 2009 eine bewegende Rede gehalten. Der Wortlaut hier:
Herr Präsident, Frau Bundeskanzlerin, Bertrand, meine sehr verehrten Damen und Herren, als ich heute hierher gekommen bin, war das ein wenig so, als ob ich das Grab meines Vaters besuchen würde. Aber er hat kein Grab. Sein Grab liegt irgendwo dort oben im Himmel. Das ist im Grunde genommen in diesen Jahren der größte Friedhof des jüdischen Volkes geworden.
Der Tag, an dem er starb, war einer der dunkelsten Tage meines Lebens. Ich bin krank und schwach geworden. Er war krank und schwach, und ich sah das mit an. Ich war da, als er litt. Ich war da, als er um Hilfe bat. Er bat um Wasser. Ich war da und hörte seine letzten Worte mit an. Aber ich war nicht da, als er nach mir rief, obwohl wir im gleichen Block untergebracht waren. Er lag in dem oberen Teil des Bettes, ich unten. Er rief nach mir und ich hatte zu viel Angst, um mich zu bewegen. Wir alle hatten zu viel Angst, um uns zu bewegen. Dann starb er. Ich war da, als er starb, aber ich war eben nicht da.
Ich habe immer gedacht: eines Tages werde ich vielleicht zurückkommen, und dann werde ich Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen, Gelegenheit haben, ihm sagen zu können, wie sich die Welt entwickelt hat, was meine Welt jetzt ist. Ich wollte mit ihm darüber sprechen, dass sich die Zeit so entwickelt hat, dass das Gedächtnis jetzt die heilige Pflicht all derjenigen ist, die guten Willens sind – in Amerika, wo ich jetzt lebe, aber auch in Europa und in Deutschland, wo Sie, Frau Bundeskanzlerin, die politische Führung übernommen haben und diese mit großem Mut und mit großem moralischem Anspruch ausüben. Kann ich ihm jetzt sagen, dass die Welt ihre Lektion gelernt hat? – Da bin ich mir nicht so sicher. Herr Präsident, wir setzen große Hoffnungen in Sie, einfach deswegen, weil Sie mit Ihrem moralisch geprägten Blick auf die Geschichte in der Lage sein und sich verpflichtet fühlen werden, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, wo die Menschen aufhören, Krieg gegeneinander zu führen – jeder Krieg ist absurd, ist bedeutungslos –, einander zu hassen und das zu hassen, was am anderen Menschen anders ist, anstatt ihn zu respektieren. Aber die Welt hat ihre Lektion leider nicht gelernt.
Ich wurde am 11. April 1945 von der amerikanischen Armee befreit. Viele von uns waren damals davon überzeugt, dass wenigstens eine Lektion gelernt worden wäre, nämlich dass es nie wieder Krieg geben würde, dass der Hass nichts mehr sei, was sich die Menschen zu eigen machen, dass Rassismus etwas Dummes sei, dass man nicht mehr versuchen würde, in die Gehirne anderer Menschen oder in die Hoheitsgebiete anderer Menschen einzudringen, dass all dies völlig bedeutungslos werden würde. Ich hatte solche Hoffnungen. Paradoxerweise hatte ich große Hoffnungen. Viele von uns hatten sie, obwohl wir im Grunde genommen jedes Recht hatten, unsere Hoffnung in die Menschheit, die Kultur und die Zivilisation aufzugeben, die Hoffnung, dass man sein Leben in Würde in einer Welt beschließen würde, in der es keine Würde gab. Aber diese Möglichkeit haben wir von uns gewiesen. Wir haben gesagt: »Nein, wir müssen doch versuchen, weiterhin an eine Zukunft zu glauben, weil die Welt ihre Lektion gelernt hat.« Aber das hat die Welt eben leider nicht. Hätte die Welt ihre Lektion gelernt, hätte es kein Kambodscha, kein Ruanda, kein Darfur und kein Bosnien gegeben. Wird die Welt je lernen?
Deswegen ist Buchenwald so wichtig, natürlich so wichtig wie Auschwitz, aber auf andere Weise. Buchenwald ist wichtig, weil dieses große Lager in gewisser Weise so etwas wie eine internationale Gemeinschaft bildete. Die Menschen kamen hierher, und zwar von überall in der Welt und auch mit allen möglichen Hintergründen politischer und gesellschaftlicher Natur. Wenn Sie so wollen, war das eine erste Übung in Globalisierung, ein Experiment. All das zielte darauf ab, die Menschlichkeit des Menschen völlig zu beseitigen. Wenn man über Menschlichkeit spricht, dann kann man nur sagen: Damals war es für die Menschen fast normal, unmenschlich zu sein. Jetzt, denke ich, hat die Welt gelernt; ich hoffe es jedenfalls. Ich denke, dass auch sehr viel Hoffnung in ihre Vision für die Zukunft setzen, um ein Gefühl der Sicherheit für Israel und auch für die Nachbarn des Staates Israel zu schaffen und um Frieden in der Region zu schaffen. Die Zeit ist doch gekommen. Es reicht doch. Es reicht. Wir wollen nicht mehr Auf Friedhöfe gehen. Es reicht. Es gibt genug Waisen, genug Opfer. Es muss irgendwann einen Moment geben, an dem es einem gelingt, Menschen zusammenzubringen.
Deswegen sagen wir jedem, der hierher kommt: Geht zurück, erinnert euch und seid entschlossen, aufeinander zuzugehen! Die Erinnerung muss die Menschen aufeinander zugehen lassen und sie nicht voneinander trennen. Dieses Erlebnis hier sollte auf keinen Fall Zorn in unsere Herzen pflanzen, sonder ein Gefühl der Solidarität unter uns schaffen. Was sonst können wir denn tun, außer dass wir diese Erinnerung hochhalten, damit die Menschen überall in der Welt sagen können: Das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert des Neuanfangs, ein Jahrhundert neuer Versprechen, ein Jahrhundert unermesslicher Hoffnung und ein Jahrhundert tief empfundener Dankbarkeit all denjenigen gegenüber, die an diese Aufgabe glauben, die darauf abzielt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
Ein großer Mann, Camus, hat gegen Ende seines wunderbaren Romans „Die Pest“ geschrieben: »Nach der Tragödie gibt es doch letzten Endes mehr, das man als Mensch zu feiern hätte, als das, was man abzulehnen hätte.« Das kann man auch vor einem solch schmerzlichen Hintergrund, wie wir uns hier in Buchenwald an ihn erinnern, so empfinden. – Herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie es mir ermöglicht haben, hierhin, an das Grab meines Vaters, zurückzukehren, das immer noch in meinem Herzen liegt.
(Quelle: Neues Deutschland, 12. Juni 2009)