Bertrand Herz, Ehrenpräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, zum 8. Mai 2020
3. Mai 2020
Mein Großvater, der deutsche Jude Rudolf Herz, ist in den 1880er Jahren nach Frankreich umgezogen und hat die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Seine drei Kinder, darunter mein Vater Willy, wurden in Paris geboren und wurden 1895 durch einen Verwaltungsakt französische Staatsbürger.
Mein Vater Willy Herz (geb. 1883) war Ingenieur bei Alsthom und hat an der Elektrifizierung des Schienennetzes mitgewirkt.
Als Franzose war er von 1914 – 1918 vier Jahre lang Kriegsteilnehmer. Er hat vor Verdun gekämpft und dort eine Batterie der Artillerie kommandiert.
Dieser Mann, der aus einer deutschen Familie stammte, verabscheute die Deutschen und redete von ihnen nur mit dem Schimpfwort „Boche“.
Diese Haltung ist ein Ausdruck für den unglaublichen Patriotismus der französischen Juden. Und sie unterstreicht noch zusätzlich das empörende Verhalten Pétains, der es gewagt hat, den französischen Juden die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und wegzunehmen, obwohl sie für Frankreich gekämpft hatten. Die Regierung Pétain hat nicht nur nichts unternommen, um ihren Tod in den deutschen Konzentrationslagern zu verhindern, sondern sich aktiv an ihrer Verfolgung beteiligt.
Ich, der Sohn von Willy Herz, habe nach meiner Rückkehr aus Buchenwald jede Erinnerung an die Lager abgeblockt, in denen ich meine Eltern verloren hatte: meinen Vater in Niederorschel, einem Außenkommando von Buchenwald und meine Mutter in Ravensbrück. Wahrscheinlich hat mir das zu weh getan. Bis zum Ende meiner beruflichen Karriere habe ich nicht über die Konzentrationslager geredet. Erst danach habe ich mich entschlossen, mich für das Gedenken einzusetzen.
Ich habe mich nicht nur für das einfache Gedenken engagiert, ich habe mich für das neue Europa eingesetzt.
Ganz im Gegensatz zu dem, was mir mein Vater über den Hass auf die Deutschen beigebracht hatte, habe ich mich für den Frieden mit Deutschland eingesetzt. Für meinen Vater war es unvorstellbar, Deutschland irgendetwas zu vergeben. Ich habe mich für die deutsch-französische Aussöhnung engagiert und mich dabei von wichtigen Menschen leiten lassen, französischen Politikern wie z.B. Robert Schuman sowie von der bemerkenswerten Haltung einiger deutscher Politiker, die erstmals anerkannten, dass Deutschland für den Nazismus verantwortlich war und diese Verantwortung auch in vollem Umfang übernehmen muss.
Leider erstarkt der Populismus wieder in Europa und auch in Deutschland in extrem gefährlicher Form. In Deutschland kann das erneut zu nationalsozialistischen Haltungen führen – die kein ehemaliger Häftling tolerieren kann. Daher bin ich überzeugt, dass das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos sowie die Verbände der ehemaligen Häftlinge in Europa ein gewichtiges Wort mitzureden haben beim Protest gegen das Wiedererstarken von Rechtsextremismus. Ich fordere deren Präsidenten auf, im Namen des Gedenkens an Buchenwald und Dora feierlich zu erklären, dass sie sich gegen jede Form von neuerlich auftretenden rechtsextremen Äußerungen wenden.
Europa wurde vor 75 Jahren vom nazistischen Joch befreit. Seit einigen Monaten kämpft ganz Europa und die Welt gegen einen unsichtbaren, aber furchtbaren Feind, einen Virus, der bislang schon zigtausende Tote gefordert hat. Hoffen wir, dass die Welt siegreich aus diesem Kampf hervorgehen und dass Europa künftig stärker und solidarischer sein wird.