Stellungnahme der LAG Buchenwald-Dora e.V. zu Bill Niven, Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda, Halle(Saale) 2009
2. Dezember 2009
Im Konzentrationslager Buchenwald herrschte Krieg zwischen der SS und den Häftlingen, vor allem den antifaschistischen Gefangenen, der mit den Mitteln, die ein KZ zuließ, geführt wurde. Bruno Apitz, politischer Häftling in Buchenwald, gestaltet in seinem Roman Nackt unter Wölfen eine Episode dieses Kampfes, die Rettung eines Kindes.
Bill Niven erhebt den Anspruch, Wahrheit, Fiktion und Propaganda zu diesem Thema zu enthüllen. Dabei lässt er zwei elementare Voraussetzungen hierfür fast vollständig außer Betracht. Erstens die besonderen Bedingungen des Kampfes der deutschen Kommunisten, als ein Teil der internationalen antifaschistischen Widerstandsfront, deren großes Verdienst darin besteht, sich illegal organisiert zu haben, wobei die Sicherheit der Organisation naturgemäß die Abgrenzung von anderen erforderte, und dass sie die sich ihnen bietenden Möglichkeiten für die Interessen der Häftlinge genutzt haben. Zweitens die politischen Verhältnisse in Deutschland in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die in der BRD durch die Installierung der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und geistigen Kräfte, die die Prozesse gegen Naziaktivisten und Kriegsverbrecher überlebt hatten, auf der Grundlage des Artikel 131 GG, wieder in Amt und Würden waren.
Im Ergebnis seiner Recherchen kommt er zu dem Schluss, dass die DDR aus der Rettung des Kindes ein Heldenmythos konstruiert hat, dem er das Prädikat eines positiven Gründungsmythos zubilligt, während seine Neuinterpretation nach 1990 ein negativer Gründungsmythos war, „um den Ausschluss des kommunistischen Erbes vom Fundament des neuen deutschen Staates zu legitimieren“(S.256). Dabei bedient er sich einiger, im herrschenden Geschichtsverständnis fest verankerter Begriffe zur Deligitimation der DDR. Dazu zählt vor allem, die Selbstbefreiung der Buchenwalder Häftlinge zu leugnen. Niven stellt die Aussagen der Häftlinge, die aktiv an ihrer Befreiung beteiligt waren, als spätere Selbsterhöhung oder Rechtfertigung dar und stützt sich auf Aussagen von Gefangenen, die in die bewaffnete Aktion nicht einbezogen waren. Der Beleg für die Selbstbefreiung aus dem Modern military archives, Washington 4. armored Division existiert für Niven nicht. Vielmehr unterstellt er, dass die DDR die Selbstbefreiung der Buchenwalder Gefangenen auf die ganze DDR-Bevölkerung ausgedehnt hätte. Wer den Stellenwert der Befreiung des deutschen Volkes durch die Alliierten, vor allem der Sowjetunion kennt, weiß: Die Sinnlosigkeit dieser These spricht für sich selbst!
Auch schreibt er ständig von der Selbstverwaltung der Buchenwalder Häftlinge, widerspricht sich dann selbst, wenn er betont dass die Funktionshäftlinge von der SS-Lagerverwaltung eingesetzt werden mussten und natürlich der Befehlsgewalt der SS-Offiziere und -unterführer unterlagen. Die Befehle auszuführen und dabei im Interesse der Gefangenen zu handeln, darin lag die hohe antifaschistische Verantwortung der antifaschistischen Funktionshäftlinge. Wenn Häftlinge auf Befehl der SS Listen für Transporte zusammenstellen mussten, durfte kein Name fehlen. Das musste auch geschehen als Jerzy Zweig abtransportiert werden sollte. Da er enge Kontakte zu Mitgliedern der illegalen Widerstandsorganisation hatte, stellte sein Transport eine Gefahr für sie dar und musste verhindert werden. Eine furchtbare, aber nicht zu umgehende Entscheidung. Es herrschte Krieg in Buchenwald.
Niven unterstellt eine Zusammenarbeit der kommunistischen Gefangenen mit der SS. Das hat es in Einzelfällen gegeben. Das Deutsche Komitee hat 5 deutsche Häftlinge mit einem roten Winkel, die mit der SS gemeinsame Sache gemacht haben, am 15. Mai 1945 in den „Buchenwalder Nachrichten, Nr. 27“ öffentlich verurteilt und sie aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Ob Niven das kennt, wissen wir nicht, auf alle Fälle schreibt er es nicht.
Für Niven verliefen die „wesentlichen Konflikt- und Spannungslinien …zwischen Nazis und Juden“. Ja, er bezeichnet die Rettung jüdischer Häftlinge in den letzten Tagen vor dem 11. April 1945 als das „bis dahin größte Verdienst des Widerstandes“ (S. 29). Damit bekräftigt er die BRD-offizielle, und leider weit verbreitete Sicht, dass nur Juden in Konzentrationslagern waren. Die ersten Häftlinge der deutschen Faschisten waren ihre politischen Gegner, vor allem Kommunisten. Die KPD war die einzige deutsche Partei, die im November 1938, als in allen Teilen Deutschlands Synagogen brannten und Zehntausende deutscher Juden in Konzentrationslager verschleppt wurden, öffentlich gegen das Pogrom protestierte und zur Solidarität mit den verfolgten Juden aufrief. Ob dieser Aufruf im KZ Buchenwald bekannt war, ist unwahrscheinlich, aber deutsche Kommunisten konnten sich Zugang zu den Neuzugängen verschaffen, um dort zu helfen.
Bruno Apitz wollte mit seinem Roman, wie seine kommunistischen Genossen und andere antifaschistische Häftlinge, nach ihrer Befreiung über die Verbrechen der Nazis berichten und zeigen, dass Menschlichkeit und Solidarität auch hinter Stacheldraht und Kerkermauern lebten. Wie jede schriftliche Äußerung zu einem Thema der Kriegszeit griff er in die politische Auseinandersetzung der fünfziger Jahre ein. Wie jeder gute historische Roman vermittelt er Wissen über die Geschichte, ja vielfach ist ein Roman massenwirksamer als ein wissenschaftliches Buch. Dabei entsteht nolens volens bei vielen, vor allem wenig vorgebildeten Lesern der Eindruck, die romanhafte Schilderung als Widerspiegelung der Realität zu nehmen. Niven unterstellt nun, dass Bruno Apitz und die DDR-Verantwortlichen nur das Ziel verfolgten, diese Fiktion zu erzeugen. Er benutzt dazu häufig den Konjunktiv. „Es könnte sein…“, „Wahrscheinlich“, Es wäre denkbar“ sind häufig zu findende Termini. Apitz hat sich, wie andere Buchenwalder mit Stefan Jerzy Zweig getroffen, der in der DDR studiert und zeitweilig gearbeitet hat. Natürlich waren das politische Veranstaltungen, zeigten sie doch, dass die DDR ihre historische Legitimation aus dem antifaschistischen Widerstandskampf zu Recht ableitete. Das alles zu einer Zeit als selbst Stauffenberg und seine Kameraden in der Bundesrepublik als Vaterlandsverräter angesehen wurden.
Niven möchte am liebsten aus dem Apitz-Roman eine Familiengeschichte machen, eine Geschichte der Rettung eines jüdischen Kindes durch seinen Vater, bei der auch andere geholfen haben. Das würde die großartige Aussage dieses Buches, die Rettung eines Kindes in der Hölle eines deutschen KZ durch kommunistische Häftlinge als ein Sieg der Humanität über die Barbarei negieren. Aber diese Aussage hat das Buch im In- und Ausland so erfolgreich und wirksam werden lassen.