Gedenkrede von Ottomar Rothmann

5. Mai 2011

Zu den Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald, die am 11. April 1945 die Befreiung erlebten, gehörte Ottomar Rothmann. Politischer Häftling war er, trug den Roten Winkel. Anlässlich de 66. Jahrestages der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald sprach Ottomar Rothmann auf der Gedenkfeier der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Hier der Wortlaut seiner Gedenkrede vom 11. April 2011:



» Wir haben uns heute hier auf dem ehemaligen Appellplatz von Buchenwald anlässlich des 66. Befreiungstages eingefunden, um des unsäglichen Leids der tausenden Opfer zu gedenken und zu mahnen.

Gestatten Sie mir, aus diesem Anlass einige Gedanken aus meinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit vorzutragen.

Die ersten Tage des April 1945 waren für uns hinter Stacheldraht das Höchstmaß dessen, was man ertragen kann. Die Gefühle und Empfindungen kann man kaum in Worte kleiden. Ich erinnere nur an die sogenannte Evakuierung des Lagers und den damit verbundenen Terror.

Es kam der 11. April 1945. In der Nacht sahen wir in der Ferne das Aufblitzen der Abschüsse der Artilleriegeschosse. Unsere Baracken, bzw. Blocks vibrierten. An Schlaf war schon in den letzten Nächten so gut wie nicht zu denken. Irgendwie spürten wir, dass es dem Ende zuging. Aber wie würde es aussehen? Im Morgengrauen war plötzlich eine unheimliche Stille eingetreten. An der Westseite sahen wir SS Einheiten den Postenweg entlang gehen. Darunter befanden sich auch die schwarzuniformierten Angehörigen der so genannten Wlassow- Armee, die in Buchenwald stationiert waren. Diese Verbrecher waren es, die bei dieser Gelegenheit noch in das Lager geschossen haben. Gegen 11 Uhr heulten erneut die Sirenen, aber es war ein langer Ton- so genannter Feindalarm. Der Rapportführer rief in sichtlicher Erregung durch den Lautsprecher: ‚Alle SS Angehörigen aus dem Lager!‘

Wir sahen zum letzten Mal die Banditen in Richtung Tor das Lager verlassen. Was sich dann abspielte, kann ich nie vergessen. Ich sah im Lager bewaffnete Kameraden, die auf das Tor zu stürmten und andere, die den Zaun auf der Westseite niederrissen. Es wurde geschossen und die ersten gefangenen SS Leute kamen mit erhobenen Armen ins Lager. Hans Eiden, unser Lagerältester, sprach durch den Lautsprecher dann zu uns.
Folgendes habe ich in Erinnerung: ‚Kameraden wir sind frei! Die SS ist geflohen. Bleibt alle auf Euren Posten. Es darf kein Chaos entstehen. Haltet Disziplin! Ein internationales Komitee hat die Macht im Lager übernommen.‘ Dann gab er den Befehl, dass keinem Gefangenen ein Leid zugefügt werden darf. Er begründete das und sagte: ‚Kumpels, wenn wir sie lynchen, sind wir nicht besser als sie selbst. Wir haben kein Recht sie zu töten. Diese Verbrecher gehören vor ein Gericht der Völker. Dort müssen sie abgeurteilt werden.‘ Dann fügte er hinzu: ‚Wenn wir sie richten, auch wenn sie es hundertmal verdient haben, – wer soll dann die Schwere der Verbrechen vor der Weltöffentlichkeit eingestehen, wenn die Schuldigen gar nicht mehr existieren? Wer glaubt uns dann, was wir der Welt zu sagen haben?‘

Obwohl ich viele Kameraden auf dem Appellplatz mit Messern in den Händen gesehen habe, der Hass in ihren Augen war nicht zu übersehen, sie blieben diszipliniert. Alle gefangenen SS- Verbrecher wurden am 13. April 1945 den amerikanischen Truppen unversehrt übergeben. Welch eine menschliche Größe gehört dazu!

Wir waren frei. Wer kann es ermessen, was alle empfunden haben? Die Kumpels lagen sich in den Armen, keiner schämte sich seiner Tränen.

Ganz furchtbar war es, dass ein Teil der Kameraden die Befreiung erlebt, aber nicht überlebt haben. Es waren nicht wenige, die in den nächsten Stunden und Tagen ihre Augen für immer geschlossen haben.

Im Refrain des Buchenwaldliedes heißt es unter anderem: ‚Oh Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil Du mein Schicksal bist. Wer Dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist.‘

Ja, so ist es wirklich. Buchenwald kann man nicht vergessen, nicht die Qualen, nicht die Demütigungen, nicht die grauenvollen äußeren Umstände und Lebensbedingungen im Lager, nicht Krankheit und auch nicht den massenhaften Tod, nicht vergessen die Augen der Kinder von Buchenwald, die keine Tränen mehr hatten. Aber unvergessen bleibt auch der Humanismus, die Hilfe und die Solidarität, der gemeinsame Wille zum Überleben der Kameraden hinter Stacheldraht.

Von besonderer Bedeutung für uns ist auch der 19. April 1945. Dieser Tag wird auch immer in Erinnerung bleiben. Wir waren bis auf die kranken Kameraden, alle auf dem Appellplatz angetreten und haben in einer Trauerfeier unserer ermordeten Kumpels gedacht. Bei dieser Gelegenheit haben wir den weltweit bekannten Schwur von Buchenwald geleistet.

Dieser Schwur entspricht auch dem Willen unserer teuren Toten. Dazu gehört auch unsere Aussage: Wir sind gegen Nazismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz in jeder Form. Getreu dieser Aussage sollten wir alle gemeinsam unabhängig von Weltanschauung und Glaubensbekenntnissen all unsere Kraft für den Erhalt unserer demokratischen Ordnung und gegen die Neonazis vereinen und einsetzen. Dabei darf es keine Berührungsängste geben.

Das sind wir unseren teuren Toten und uns selbst schuldig.

Ich danke für ihre Aufmerksamkeit! «