Rede von Karl Prümm: Walter Krämer – Gerechter unter den Völkern

25. April 2011

Walter Krämer war ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Dies bezeugen die Erinnerungen zahlreicher Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, die ihm in überwältigender Weise Bewunderung, Respekt und Dankbarkeit bekundeten. Und auch die vielen Lebenszeugnisse, die mein Freund Klaus Dietermann 1986 in mühsamer Detailarbeit zusammengetragen und in unserer gemeinsamen Publikation Walter Krämer – Von Siegen nach Buchenwald kommentiert hat, zeichnen ein sehr klares Profil dieses politischen Aktivisten, der dann im Lager noch eine ganz andere Identität gewann. Ich möchte dieses Profil mit ein paar Strichen andeuten, an einem Tag, der dem Andenken Walter Krämers in besonderer Weise gewidmet ist.

Die wohl umfassendste Würdigung Walter Krämers findet sich im sogenannten „Buchenwald-Report“, einem Bericht, der auf Veranlassung amerikanischer Nachrichtenoffiziere in den ersten Tagen nach der Befreiung des Lagers entstand und die Erinnerungen zahlreicher Häftlinge festhält, der also ein sehr unmittelbares und lebendiges Dokument darstellt. Die folgenden Sätze stammen von Eugen Kogon, der diese Passage auch in sein Buch „Der SS-Staat“ aufgenommen hat:
„Walter Krämer war eine starke und mutige Persönlichkeit, ungeheuer fleißig und sehr organisationsbegabt; er wurde ein sehr vorzüglicher Wundbehandler und Operateur.“ (S.91)

Der Katholik und Mithäftling Eugen Kogon will Walter Krämer ganz offenkundig ein Denkmal setzen, eine besondere Anerkennung festhalten, die auf der Erfahrung vieler Überlebender beruht. Er rühmt die Persönlichkeit, den rastlosen Einsatz und vor allem aber die medizinischen Leistungen, in die Walter Krämer im Lager hineinwuchs. Wie konnte ein einfacher Schlosser aus dem Siegerland zum „Arzt von Buchenwald“ werden? Was sind die Voraussetzungen und Hintergründe eines solchen Lebenslaufs?

Walter Krämer, 1892 als drittes von acht Kindern eines Arbeiters in Siegen geboren, war ein überzeugter Kommunist – und damit ist bereits die alles entscheidende Prägung seines Lebens bezeichnet. Seine ganze Person stellte er rückhaltlos in den Dienst der KPD und der Arbeiterbewegung. Walter Krämer war aber alles andere als ein blinder Mitläufer einer seit Beginn der 1930er Jahre zunehmend stalinistischen Kaderpartei. Wer sich nach 1918 im Siegerland zur KPD bekannte, der mußte den Mut aufbringen, als Außenseiter zu gelten, der verließ den damals noch machtvollen Konsens von Religiosität und nationalistischer Ideologie. Walter Krämer musste dann auch leidvoll erfahren, wie rigide die traditionellen Strukturen im kalten südwestfälischen Industriegebiet noch funktionierten, wie hart und schmerzhaft Ausgrenzungen vollzogen wurden.

Es war kein einfacher Weg, den er eingeschlagen hatte – 1910 als Freiwilliger und dann 1917 als Deserteur der kaiserlichen Marine, der sich eben nicht mit der ganzen Flotte für Kaiser und Vaterland opfern lassen wollte, wie dies von einigen Admirälen in den letzten Tagen des Krieges erwogen wurde, als Mitglied des Siegener Arbeiter- und Soldatenrats 1918, als Rotarmist im Ruhrkampf 1920 und schließlich als Funktionär der neugegründeten KPD. Obwohl ein Schuß Abenteurertum bei Walter Krämer unverkennbar ist, er sich in den Wirren der Nachkriegszeit zum Sozialrebell aufschwingt, sich an einem Diebstahl beteiligt, der einem in Not geratenen Arbeitskollegen zu gute kommen soll, obwohl „der Dicke“, wie er in der Familie liebevoll genannt wird, rauflustig und bärenstark keiner Schlägerei und Saalschlacht ausweicht, so ist er doch kein Krawallmacher und Rabauke, wie er in der KPD damals nicht selten zu finden war, gehörte er nicht zu jenen Hasardeuren, die hemmungslos von ganz links nach ganz rechts überwechselten, von Rotfront zur SA. Ganz im Gegenteil: Walter Krämer war ein Kommunist aus tiefer Überzeugung, für ihn war Politik eine Glaubensangelegenheit, in seinem Handeln ging er stets von klar umrissenen ethischen Grundsätzen aus. In einem Brief, den er im Dezember 1933 aus dem Gefängnis an seinen Vater schreibt, den er damals für einen Sympathisanten Hitlers hält, drückt er dies so aus:
„Die Heuchelei ist mir ebenso verhaßt wie Dir und wenn Du auch ein 100 %iger Anhänger der NSDAP bist und mit Hitler durch dick und dünn gehst, so wirst Du mir doch so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß Du zu verstehen suchst, daß das eine wie das andere eine Sache der inneren Überzeugung ist und daß man nur den Menschen achten kann, der seiner inneren Überzeugung gemäß handelt und in dieser Richtung seine Pflicht tut.“

Seine „innere Überzeugung“, das war der feste Glaube, dass die Partei für die gerechte Sache des Proletariats zu kämpfen hat, eine revolutionäre Veränderung unabweislich ist und dass es auf dieser Erde ein Land gibt, wo sich diese Utopie bereits erfüllt hat: die Sowjetunion. Es fällt heute leicht, solche Illusionen zu belächeln. Aber Walter Krämer leitete aus dieser Überzeugung Kräfte und Energien ab, prägte eine bestimmte Haltung aus, die wir nach 1989, nach dem Ende des Kalten Krieges und seiner Konfrontationen vielleicht besser und unvoreingenommener verstehen und werten können.

Walter Krämer war in den zwanziger Jahren ganz ohne Frage ein gehorsamer Parteisoldat, übernahm folgsam alle Aufgaben, die die Parteileitung ihm zuteilte, arbeitete als Parteisekretär in Krefeld, Wuppertal, Kassel und Hannover, nahm die vielen Umzüge und den Verzicht auf ein Privatleben in Kauf. Immer stand er bei seiner politischen Arbeit unter dem Generalverdacht des Hochverrats, wurde bei seinen öffentlichen Auftritten von Polizeibeamten bespitzelt. So ist aber auch belegt, wie scharfsinnig und wirkungsvoll er gegen die NSDAP agitierte, wie wortmächtig er vor der Verführung der Nazis warnte. 1932 wurde er sogar in den Preußischen Landtag gewählt, konnte sein Mandat aber nur kurz wahrnehmen, da Reichskanzler von Papen das Land Preußen -–wie bekannt – schon bald liquidieren sollte.

Nach dem Reichstagsbrand holte die NSDAP zum großen Schlag gegen die Linke aus, und Walter Krämer gehörte zu denen, die noch am gleichen Abend verhaftet wurden. Damit beginnt die Tragödie des gläubigen Kommunisten Walter Krämer, der nun bis zu seiner Ermordung 1941 keine Minute in Freiheit mehr erleben sollte. Mühsam bastelte der 2. Senat des Volksgerichtshofs aus Reden, Spitzelmitschriften und Verlautbarungen der KPD eine Hochverratsklage und verurteilte Walter Krämer am 21. Dezember 1934 zu einer Gefängnisstrafe von 3 Jahren. Nur 12 seiner 22 Monate Untersuchungshaft wurden ihm angerechnet. In einer Erläuterung zum Urteil legte das Gericht seine Motive offen:
„Allgemein ging der Senat bei der Straffestsetzung von der Tatsache aus, daß es sich bei den Angeklagten nicht um Verführte handelte, sondern um solche Persönlichkeiten, die an leitender Stelle mit einem unverkennbaren Intellekt als Verführer tätig waren. In besonderem Maße gilt dies von den Angeklagten Krämer und Lademann.“

Das Eingeständnis ist bemerkenswert. Das Regime fürchtete sich vor der „Persönlichkeit“ Krämers, seiner Ausstrahlung, seiner Überzeugungskraft und seinem „Intellekt“. Vor solchen „gefährlichen Subjekten“ mußte die Volksgemeinschaft in Schutz genommen werden. Die infame Denkfigur der „Schutzhaft“ ist hier bereits vorformuliert. So dachte man dann auch überhaupt nicht daran, Walter Krämer nach Verbüßung seiner Strafe frei zu lassen. Ohne Rechtsgrundlage wurde er der Gestapo übergeben, in das Konzentrationslager Lichtenburg eingeliefert und schließlich im August 1937 nach Buchenwald deportiert. Damit war Walter Krämer ein Verlorener. Er hatte nicht die geringste Chance, seinen Traum zu erfüllen, ins Ausland zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Schon hatte er im Gefängnis damit begonnen, Englisch und Russisch zu lernen. Wer weiß, für welche der beiden Welten er sich entschieden hätte, wenn er sich hätte entscheiden können. In Briefen an seine Frau spendete er Trost, indem er seine Siegerländer Identität beschwor, die zweite Seite des kalten Südwestfalen:
„Wir Westfälinger, insbesondere wir Siegerländer, haben einen ,harten‘ Kopf und eine gesunden Sinn mit auf den Weg bekommen. Dem ergeht es wie unserem Erz, das so mühsam aus den Bergen hervorgeholt wird und das in der Glutofenhitze des Hochofens zu Stahl wird, der je mehr man ihn hämmert desto härter und unbeugsamer wird.“

Walter Krämer war nach 1933 ganz auf sich allein gestellt, die Kommunisten waren im „3. Reich“ ebenso wie die Juden absolut rechtlos, Freiwild, der Willkür vollkommen ausgeliefert. Kein Anwalt kümmerte sich um seine Sache, fragte bohrend nach der Rechtsgrundlage seiner KZ-Haft, nach seiner Perspektive, und die eingeschüchterte Familie wagte es erst recht nicht, etwas zu unternehmen. Niemand stärkte ihr den Rücken. „Sie sind doch selbst schuld, die Kommunisten“ – das war der allgemeine Tenor der Indifferenz und des Vorbeischauens.

Dem Konzentrationslager Buchenwald fiel eine Sonderrolle zu, denn hier gelang es der KP wie sonst in keinem Lager in einem zähen Kampf mit den „Grünen“, den Berufsverbrechern, ein illegales Netzwerk aufzubauen und schließlich alle wichtigen Kapo-Funktionen, zentrale Aufgaben, die Häftlingen oblagen, zu übernehmen. Diese Zusammenhänge, die prekäre Position der Kapos zwischen einer Ordnungsfunktion quasi im Sinne der SS und der Möglichkeit, solidarische Strukturen auszubilden, die Härten des Lagers zu mildern, sind inzwischen genau erforscht und dokumentiert. Dem Krankenrevier kam dabei eine besondere Bedeutung zu. Als Walter Krämer 1938 den Auftrag erhielt, im Krankenbau Kapo-Funktionen auszufüllen, handelte er zunächst ganz im Sinne der erlernten Parteidisziplin, konnte an seine politischen Erfahrungen in der Illegalität anknüpfen. Die Genossen konnten sich auf ihn verlassen, er war ein bewährter Stratege und Organisator. Doch wie er jetzt diese Rolle für sich definierte, wie er sie konkret ausfüllte, das übersteigt bei weitem seine bisherige Identität, seine politische Praxis, seine Erfahrungen, dies macht seine Lebensleistung aus, die große Bewunderung verdient. Hier beginnt etwas entscheidend Neues: der Schlosser, der Parteifunktionär verwandelt sich, wird zum Helfer, der eine überragende ärztliche Kompetenz entfaltet, der komplizierte Wundbehandlungen, Schutzimpfungen und sogar Operationen durchführt. Unter den Extrembedingungen des Lagers durchläuft er eine Selbstausbildung zu einem Beruf, der sich ihm im normalen Leben niemals eröffnet hätte. Es muß für ihn auch eine beglückende Erfahrung gewesen sein, ungeahnte Fähigkeiten zu entdecken, Anerkennung und Dankbarkeit zu erleben, weit über sich hinauszuwachsen. Dieser Arzt aus eigenem Entschluß und selbstentdeckter Befähigung wird so zum absoluten Gegenbild jener examinierten und approbierten SS-Ärzte, die bedenkenlos die Grenze vom Heilen zum Töten überschritten, die Selektionen vornahmen, Todesspritzen setzten und grausame Experimente an Häftlingen vornahmen.

Nach 1989, nach dem Ende der DDR hat sich der Blick auf Buchenwald verändert. Als sich nun die Archive öffneten, kamen Dokumente zum Vorschein, in denen die problematischen Seiten der sogenannten „Funktionshäftlinge“ klar hervortraten: der Missbrauch von Macht, die Schonung des eigenen Klientels durch „Opfertausch“, die Gewalt, die auch Kapos gegen die Mithäftlinge ausübten.
In den Zeugnissen, die nun publiziert wurden, findet sich aber nicht der geringste Hinweis, dass Walter Krämer hier verstrickt war, ganz im Gegenteil, seine absolute Integrität, seine Weigerung, sich zum Werkzeug der SS machen zu lassen, wird überall hervorgehoben. Durch den Einsatz von Walter Krämer und Karl Peix, seinem Stellvertreter als Kapo, seien die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass der „Krankenbau ein Hauptstützpunkt im Kampf gegen die SS und eine Oase der Sicherheit für die Häftlinge“ werden konnte, heißt es an mehreren Stellen. Walter Krämer hat nie im Sinne einer strikten Kaderpolitik gehandelt, sondern hat ohne Ansehen der Person, unter Einsatz seines Lebens geholfen, hat oft heimlich in der Nacht Kranke gepflegt und hat so viele Menschenleben gerettet. Sein „Mut“ und seine „Energie“ strahlten aus und wurden zum Maßstab für seine Nachfolger, nachdem er im November 1941 auf einem Außenkommando in Goslar ermordet worden war.
Die wohl bedeutendste Würdigung erfuhr Walter Krämer im Jahre 2000. Die Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erklärte ihn zum „Gerechten unter den Völkern“. Nur seine Heimatstadt Siegen versagt ihm bis heute jede offizielle Anerkennung – was niemand begreifen kann, der sich das Schicksal Walter Krämers, seine mutige und selbstlose Hilfe vor Augen führt.

Buchenwald 17.04.2011