Rede von Jens Wagner

17. Mai 2010

Begrüßung zur Gedenkveranstaltung am 12. April 2010

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Sehr geehrter
Boris Pahor,
Avraham Lavi,
Van Hoey, Vorsitzender des Häftlingsbeirates,
Bertrand Herz, Präsident des IKBD,
Minister Dr. Holger Poppenhäger,
Staatssekretär Prof. Dr. Thomas Deufel,
Landtagspräsidentin Birgit Diezel und Vizepräsidentinnen Franka Hitzing und Dr. Birgit Klaubert,
Yoram Ben-Zeev, Botschafter des Staates Israel,
Angehörige des Dipl. u. Konsular. Corps,
Landrat Joachim Claus,
Oberbürgermeisterin Barbara Rinke,
Mitglieder des Bundestages, des Landtages, des Kreistages und des Stadtra­tes,
Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften,
Überlebende der KZ Mittelbau-Dora und Buchenwald,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen allen, dass Sie heute so zahlreich hier erschienen sind, um mit den Überlebenden des Jahrestages ihrer Befreiung zu gedenken.
Am 11. April 1945, gestern vor 65 Jahren, rückten amerikanische Truppen in Nordhausen ein. Damit hörte das KZ Mittelbau-Dora auf zu existieren. Doch zunächst konnten die Amerikaner nur einige Hundert Häftlinge im Kranken­revier des Lagers Dora und in der Boelcke-Kaserne am südöstlichen Stadtrand von Nordhausen befreien.

Alle anderen Häftlinge, etwa 40.000 Männer und einige Hundert Frauen, waren in den Tagen zuvor bei der Räumung des KZ Mittelbau von der SS auf Todes­märsche und in Bahntransporten in andere Lager getrieben worden. Für sie war der 11. April kein Tag der Befreiung, ihr Leiden ging weiter. Viele von denen, die die Räumungsmärsche und -transporte überlebten, wurden erst nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 in Norddeutsch­land, Tschechien oder in Österreich befreit. Dennoch begehen auch sie den heutigen Tag als symboli­schen Tag ihrer Befreiung.
Für viele Überlebende war die Befreiung wie ein zweiter Geburtstag. Und diesen wollen wir heute gemeinsam mit ihnen feiern.
Neben der Freude steht aber auch Trauer – Trauer um die 20.000 Männer, Frauen und Kinder, die Mittelbau-Dora nicht überlebt haben. Tausende Wider­standskämpfer, Juden, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Kriegsgefangene, Wehrmachtsdeserteure und wegen ihrer Homosexualität oder ihres Lebensstils Verfolgte verhungerten elendig, starben an den Folgen mörderischer Zwangs­arbeit, wurden erschlagen, erhängt oder auf Todesmärschen erschossen. Ihrer gedenken wir heute.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass heute noch einmal über 100 Überlebende der Konzentra­tionslager Mittelbau-Dora und Buchenwald hier zusammen gekommen sind – meist hochbetagt –, um sich gemeinsam an die Tage im April 1945 zu erinnern und ihre Erinnerungen an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Seien Sie herzlich willkommen!
65 Jahre sind fast ein Menschenleben. Viele fragen sich deshalb, wer wohl in zwanzig Jahren noch am 11. April hier vor dem ehemaligen Krematorium stehen wird, um der Toten zu gedenken. Viele in Europa befürchten und manche vor allem in Deutschland wünschen sich nach über 65 Jahren ein Ende der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen – einen Schlussstrich. Dass es diesen nicht geben darf, dafür stehen hier heute ehemalige Häftlinge gemeinsam neben Angehörigen jüngerer und jüngster Generationen. Sie setzen ein wichtiges Zeichen für die Zukunft, dass die wache, die kritische Auseinan­dersetzung mit den NS-Verbrechen auch von den nachfolgenden Generationen fortgeführt wird.

Dass dies weiterhin sehr nötig ist, beweisen nicht zuletzt die rechtsextremis­tischen Vorfälle der vergangenen Woche: Vor einiger Woche mussten wir unsere Wanderasustellung „Zwangsarbeit für den Endsieg“, die über die Geschichte des KZ Mittelbau-Dora informiert und die seit Februar in der Universitätsbibliothek in Göttingen gezeigt wurde, vorzeitig beenden, nachdem Unbekannte gezielt mehrere Ausstellungstafeln durch Messerschnitte zerstört hatten. Wenige Tage später ist der Jüdische Friedhof von Heiligenstadt, nur 40 km von Nordhausen entfernt, geschändet. Es ließen sich weitere Beispiele rechtsextremer Gewalt aus den letzten Wochen anführen. Sie empören, und sie erfüllen uns mit Zorn.

Zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gehört es, den Überlebenden zuzuhören und ihre Zeugnisse zu sichern und weiterzugeben. Avraham Lavi und Boris Pahor haben Mittelbau-Dora überlebt, der eine als verfolgter Jude, der andere als italienisch-slowenischer Widerstandskämpfer. Sie berichten uns heute nicht nur über ihre Erfahrungen im KZ, sondern auch über ihre Sorge, dass Geschichte ohne die Zeitzeugen verfälscht und für aktuelle politische Zwecke missbraucht wird.
Diese Sorge steht auch im Mittelpunkt von Interviews, die der Verein Jugend für Dora im vergangenen Jahr mit KZ-Überlebenden gemacht hat. Im Zentrum stand die Frage, wie sich die Überlebenden die öffentliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der Zukunft vorstellen, einer Zukunft, in der es keine Zeitzeugen mehr gibt. Passagen aus einigen dieser Interviews werden Mitglieder des Vereins am Ende der Veranstaltung vortragen.

Sehr geehrte Damen und Herren, haben Sie vielen herzlichen Dank, dass Sie heute so zahlreich hier erschienen sind. Ich wünsche Ihnen und uns einen beein­druckenden und würdigen Tag der Erinnerung an die Lagerbefreiung, an dem die im Mittelpunkt stehen, die unsere Ehrengäste sind: die ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Jens Wagner, Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora